Die Gräfin X
(Phantastischer Roman “Ein Boxer namens “Wolfsohr”, Kapitel I)
Ungeduldig wählte Frau Elbruch ein letztes Mal die Nummer der Dienstleistungsfirma “Die Zauberin” für Besitzer von privaten Palästen und Anwesen, Hotels, Villen und Schlössern, Kuranlagen, Gärten und Parks. Nach wie vor meldete sich niemand. Schon wollte sie den Hörer hinwerfen, als sie plötzlich eine angenehme Männerstimme hörte.
- Hier ist Schmidt. Was kann ich für Sie tun, Madame? -
- Das ist keine Firma, sondern ein Kramladen ! Den ganzen Tag sitze ich am Telefon, als ob ich weiter nichts zu tun habe, und kriege keinen Anschluss in ihrem bürokratischen Saftladen ! Was machen Sie dort überhaupt, möchte ich mal wissen ? Was ist das dort für eine Schlamperei am hellen Tage ? -
- Verzeihung, wir haben heute Ruhetag - unterbrach der Diensthabende die endlose Tirade der Beleidigungen irgend so einer nervösen Person.
- Und ändern Sie bitte Ihren Ton, sonst lege ich den Hörer hin ! -
Frau Elbruch versuchte, sich zusammen zu nehmen und rief ungehalten:
- Notieren Sie meinen Auftrag. Wenn Sie sich erinnern, und Sie müssen sich an alles erinnern, so habe ich darum gebeten, mir keine schwarzen oder sonstigen farbigen Putzfrauen zu schicken. Ich kann nur weiße brauchen, und unbedingt mit höherer Bildung. Verstehen Sie das ? - fuhr sie im Befehlston fort.
- Darf ich Ihren Namen erfahren, verehrte Dame, damit ich meinem Chef berichten kann, wessen Auftrag so unbedingt ausgeführt werden muss, - fragte der Diensthabende..
- Das ist nicht wichtig, - antwortete die Damen nach einem Nachdenken.
Dann fiel ihr jedoch ein, dass das übertrieben sei und sie fügte hinzu: - Frau Elbruch, wenn Sie wollen. -
- Gut, - antwortete Herr Schmidt. - Gleich morgen werde ich Ihre Bitte an den Chef weiterleiten.. -
Sie ließ den Hörer langsam sinken und hörte noch den letzten Satz des Diensthabenden: - Es hat mich sehr gefreut, mit Ihnen bekannt zu werden, Frau Elbruch. -
Schmidt ließ sich in den Sessel zurückfallen und dachte: “Neben diesem Kettenhund möchte ich nicht in der Nähe sein, die zerreißt einen ja in Stücke.
Meine Hände zittern immer noch … Bloß gut, dass wir uns über die Entfernung unterhalten haben. -
Er öffnete das Dienstbuch und schrieb mit dicker Schrift für den Chef die besonderen Wünsche der Kundin ein: Unbedingt eine weiße Putzfrau mit höherer Bildung für Frau Elbruch. - Dann bemerkte er, dass neben dem Namen der Skandal-Kundin bereits fünf Namen standen. Sie hatte alle fünf vor Ablauf der dreimonatigen Probezeit nur deswegen verjagt, weil sie für sie nicht die richtige Herkunft hatten.
- So ein Diktator mit einem solchen giftigen Charakter gehört ins Guinness-Buch.. Na gut, meine Sache ist es, dem Chef zu berichten, soll der sich mit ihr auseinandersetzen.. - Und ging, sich einen Kaffee anzusetzen, um sich etwas zu beruhigen.
Die Hausangestellte Ellen, eine zweiundzwanzigjährige Afrikanerin mit einer Hautfarbe wie flüssiger Honig und mit einem Gesicht, das man den Traum eines jeden Fotografen nennen konnte, besaß außerdem kluge braune Augen und eine überaus schöne Figur. Ihre dunklen, kurz geschnittenen Haare verliehen dem Mädchen einen besonderen Charme.
Als sie das Telefongespräch ihrer Herrin unabsichtlich mithörte, verstand sie, dass die Herrin keine dunkelhäutigen Arbeiterinnen haben wollte. Ellen ging die Treppe hinunter in den Salon, der mit Renaissance-Möbeln ausgestattet war.
Hier hatte es sich ihre launische Herrin in einem Sessel bequem gemacht.
Ellen glitt zu ihren Füßen und begann zu weinen.
- Liebe Frau Elbruch, jagen Sie mich bitte nicht fort ! Ich weiß sonst nicht, wo ich hin soll. Ich verspreche Ihnen, alle Ihre Wünsche und Aufträge gewissenhaft zu erfüllen. Ich bitte Sie um Christi Willen, haben Sie Mitleid mit mir ! -
Ohne auch nur den Kopf zu wenden, stieß die Hausfrau die Dienerin mit dem Fuß fort und rief ihr dabei zu: - Hinaus mit dir, du schwarze Katze ! Arbeite, sonst schaffst du heute nicht deine Aufgaben. -
Ellen erzitterte von einer solchen Grobheit und verlor die letzte Hoffnung auf ein Einsehen der Chefin. Sie dachte, dass diese keine von denen sei, die das Eis der Fremdheit zum Schmelzen bringen oder die Seele eines Unglücklichen erwärmen könnte. Plötzlich jedoch sagte die Hausherrin, als wäre sie soeben zu sich gekommen, mit müder Stimme: - Na gut. Wir reden morgen weiter. Heute muss ich mich ausruhen. -
Frau Elbruch war etwa 40 Jahre alt, sah jedoch um 20 Jahre älter aus.
Sie war hässlich, dick, mit üppiger Brust und einem pockennarbigen Gesicht..
Die weiß gefärbten Haare passten nicht zu ihrem Äußeren. Häufig saß sie im Garten, in einem bequemen Korbstuhl, blätterte in Zeitschriften und Zeitungen oder erfreute sich einfach an den Blumen. Und wie viele gab es da !
Wenn sie manchmal über die Wege ging und mit ihren Pflanzen sprach, konnte man sie für eine empfindsame Frau mit einem guten Herzen halten. Aber für Ellen war ihr Benehmen ein vollständiges Rätsel. Dieses böse Geschöpf konnte plötzlich in Lachen ausbrechen, wie ein Mädchen, oder düster werden und in die Tiefe des Gartens gehen, damit niemand ihre Nervenanfälle sehen sollte.
Ellen beobachtete ihre Herrin und versuchte, hinter das Geheimnis ihres groben Charakters zu kommen. In ihrem Alter sollte sie doch längst eine eigene Familie haben.. Aber in der ganzen Zeit ihrer Arbeit im Hause dieser Herrin hatte Ellen nie einen Mann gesehen, noch andere Leute oder Kinder. Vielleicht war diese hässliche Frau auch deswegen mit der ganzen Welt in Unfrieden, weil sie bis zu ihrem Lebensende zur Einsamkeit einer alten Jungfer verurteilt war ?
Es waren genau drei Monate vergangen. Ellen bereitete das Mittagessen für die Herrin vor, als plötzlich das Telefon klingelte. Ellen hörte die Stimme ihrer Herrin.
- Ellen, meine Liebe, komm zu mir in den Garten. Ich möchte mit dir sprechen. -
Ellen band sich flink die Schürze ab und lief in Erwartung schlimmer Dinge in den Garten. War doch die Probezeit um, und sie wusste genau, dass heute ihr letzter Tag war und dass sie morgen auf der Straße liegen würde. Aber zu ihrer Verwunderung sprach die Herrin mit ihr freundlich, fast mütterlich..
- Mein Kind, hör mir bitte zu, - sagte sie nach einem Hüsteln.- Ich habe beschlossen, dich bei mir zu behalten, und zwar für immer, und deinen Lohn werde ich erhöhen. Du sollst in der Woche zwei freie Tage haben, wann immer du es willst.
Aber sag es mir bitte vorher. Sind wir uns einig ? -
Die ganze Welt hatte sich für die rechtlose Dienerin umgekehrt. Jetzt brauchte sie sich nicht mehr auf der Arbeitssuche von launischen Dienstherren erniedrigen lassen..
Vor Glück fiel Ellen ihrer Herrin zu Füßen, aber diese hob sie auf.
Das Mädchen wagte nicht zu fragen, was mit ihrer nicht wieder zu erkennenden Herrin geschehen sei, warum sie zu ihr so gütig geworden war.
Ellen hatte aber schon begriffen, dass die Herrin schon lange mit ihr zufrieden war als mit einer ergebenen, gewissenhaften und ordentlichen Haushaltshilfe. Ellen war in wunderbarer Stimmung. Das konnte man von ihrem Gesicht ablesen.
Nach einer Minute des Schweigens und einem abermaligen Hüsteln setzte die Herrin den Dialog fort.
- Ich habe dir nie von meinem Schicksal erzählt. Die Reichen sind doch auch nur Menschen. Sie können nicht nur betrüben und lachen. Ich habe schon alle Tränen geweint …-
Ellen horchte auf. Vielleicht war mit der Herrin wirklich etwas nicht wieder gut zu machendes geschehen und darum ist sie so einsam ? Verschiedene Gedanken jagten ihr durch den Kopf … Aber dann fuhr Frau Elbruch mit ruhiger, ausgeglichener Stimme fort: - Vor einem halben Jahr ist mein Mann gestorben. Ich konnte mich lange nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ich eine Witwe geworden bin, dass ich jetzt einsam bin und von niemandem gebraucht werde. Aber seit du zu mir kamst, hat sich meine Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert …
- Aber ich erfülle doch nur meine Pflichten als Haushaltshilfe. -
- Ja, du hast recht. Man kann aber die selbe Arbeit auf verschiedene Weise ausführen. Verstehst du ? Du warst zu mir wie die eigene Tochter. Du hast für mich mehr getan, als alle vorher für mich tätigen Menschen. -
Ellen hätte vor Glück fast aufgeschrieen. Nun hatte sich die Herrin ihr anvertraut. Was hätte sie sich noch mehr erträumen können ! Ellen barst fast vor Entzücken. Die Worte “du warst zu mir wie die eigene Tochter” hatten sie gerührt.
Tränen der Freude schossen ihr in die Augen. Ihr schien, als ob die sie umgebende Natur mit ihr jubelte !
Ellen war von dem Garten begeistert, der immer so aussah, als ob er Tag und Nacht von einer ganzen Brigade bester Gärtner gepflegt würde. Nun sah sie zum ersten Mal zwei kleine Männer, die in der Erde gruben. Einer von ihnen war rund wie eine Kugel, der andere dünn wie Reisig. Beide waren jedoch gleich flink. Sie gruben wie fleißige Bienen und merkten nichts um sich herum. Harmonisch schufen sie in dem botanischen Garten helle Landschaften.
Mit ihren Händen hatten sie ein Rosarium unbeschreiblicher Schönheit geschaffen, Beete mit Glockenblumen und Tulpen, eine Galerie von Miniaturbeeten mit verschiedenfarbigen Gladiolen… Silberne Strahlen einer Vielzahl lustiger Fontänen vermittelten all diesem lebensvolle Energie. Ein Teich mit Schilf und Lotosblumen erinnerte an ein Reich unter dem Wasser, wo Fische spielten und bunte Schildkröten auf dem sonnigen Sand lagen.
Die Kunst dieser Zauberer konnte auch den Härtesten erweichen. Wohl deswegen kam Frau Elbruch hierher, um heilende Bäder zu nehmen, verwöhnt von den kleinen Künstlern dieses von Hand geschaffenen Winkels der Natur.
Als die Herrin das Erstaunen auf Ellens Gesicht bemerkte, sagte sie, dass diese beiden einzigartigen Liliputaner mit ihrer Arbeit zehn qualifizierte Gärtner aufwiegen..
Die Dienerin hatte sie noch nie gesehen, weil sie von 6 bis 7 Uhr morgens arbeiteten, wenn alle noch schliefen.
- Heute, mein liebes Kind, habe ich sie extra hergebeten, um dich mit dem Wunder der goldenen Hände dieser kleinen Menschen zu erfreuen, die in der Lage sind, große Taten zu vollbringen. Und jetzt, meine Liebe, lass mich allein, ich möchte ein bisschen schlafen, - sagte die Herrin, schloss die Augen und schlief augenblicklich ein.
Ellen konnte ihr Glück noch immer nicht fassen. Jetzt, als sie endlich aufgenommen worden war, erkannte sie, dass das alles nicht von ungefähr gekommen war..
Als Ellen von dem Kummer durch den Verlust des geliebten Mannes erfahren hatte, schlussfolgerte sie, dass diese Leiden der Herrin geholfen hatten, die Lage des armen Mädchens zu verstehen.
Und hier erhoben sich unwillkürlich Erinnerungen aus dem eigenen Schicksal.
Als das Mädchen drei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Die Mutter musste sich bei reichen Leuten verdingen. Mit 10 Jahren begann Ellen, der Mutter zu helfen..
Sie hatte keine Erinnerung daran, dass ihre Mutter jemals gelacht hatte. Das schwere Leben erlaubte ihrer Mutter keinerlei Entspannung. Manchmal war die Arbeit auch für das Mädchen zu schwer. Aber das Mädchen verstand, dass da kein anderer war, der der Mutter helfen konnte.
Als sie etwas Geld gespart hatte, schickte die Mutter Ellen zum Jura-Studium, wovon die Tochter träumte. Sie lernte sehr leicht und galt als die beste Studentin im College. Das studentische Glück dauerte jedoch nicht lange. Im dritten Semester erkrankte die Mutter schwer und konnte zwei Monate nicht aus dem Bett aufstehen. Ihr Dienstherr entließ sie fristlos. So konnte das Studium nicht mehr bezahlt werden, und Ellen musste das College verlassen.
Bald darauf starb die Mutter an einer Lungenentzündung. Nun war das Mädchen eine Waise. Das Schicksal ließ ihr als ihr Erbe nur den von ihrer Mutter vorgetretenen Weg. Mit den Pflichten einer Haushaltshilfe war sie gut vertraut, und etwas anderes zu suchen, konnte sie sich nicht entschließen.
Es war Mitternacht… Ellen erinnerte sich an die strenge Forderung ihrer Herrin, nach 12 Uhr im Hause kein Licht zu brennen und Ruhe zu halten.
Frühere Haushaltshilfen, die das von der Herrin festgelegte Regime verletzt hatten, waren mitleidslos vom Hof gejagt worden.
Ellen hatte eine chronische Schwäche. Sie las abends gern Liebesromane. Dabei achtete sie jedoch auf die Zeit, um das Licht im notwendigen Moment zu löschen und sich auf die Seite zu drehen.
Sie konnte nicht gleich einschlafen, und daher vernahm ihr scharfes Gehör mehrmals aus der klingenden Stille irgendwelche kaum wahrnehmbaren Geräusche, ein Knarren und Rascheln. “Das wird doch nicht der Hausgeist sein, der seine nächtlichen Rechte wahrnimmt ? “ Wie jedoch die neugierige Ellen später feststellte, verursachte die durch das Haus gehende Herrin diese geheimnisvollen Laute.
“Eigenartig, den ganzen Tag schläft sie im Sessel, und nachts ist sie munter”.
Dieses Mal konnte Ellen nicht einschlafen. Sie riskierte es, geräuschlos hinter der Herrin herzugehen und dachte sich für alle Fälle eine Legende darüber aus, wie ein schrecklicher Traum sie habe aufstehen lassen, um nachzusehen, ob alle Türen im Hause verschlossen sind.
Die Dienerin ging aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. In der Dunkelheit bemerkte sie die langsam den Flur entlanggehende Herrin, die einen mehrarmigen Leuchter mit zitternden Lichtern vor sich her trug. “Warum denn diese Maskarade, wenn es im Hause doch Elektrizität gibt ? “ wunderte sich die Hausangestellte.
Die Neugier erwies sich als stärker als die Angst um ihr Schicksal, und Ellen wollte einen Blick in die Welt ihrer Herrin werden.
Diese ging langsam voran und horchte auf alle Geräusche. Plötzlich sprang ein großer schwarzer Kater aus der Dunkelheit auf sie zu. Wahrscheinlich hatte ihr großer beweglicher Schatten, verzerrt durch den Schein der brennenden Kerzen, auch ihn erschreckt. Sie schimpfte mit dem Kater, nahm ihn auf den Arm und fragte ihn zärtlich: - Wo warst du denn so lange ? Drei Tage warst du nicht da.- Sie streichelte seine seidige Wolle und küsste ihn auf das Näschen. Dann schritt sie die Stufen zu der Tür hinunter, die in den Keller führte. Der Kater spürte jedoch die Anwesenheit einer fremden Person, schnaubte und versuchte, sich von der Herrin loszumachen, die sein eigenartiges Benehmen nicht verstehen konnte. Ellen betete, dass der Kater sie nicht verraten möge.
Der Kater beruhigte sich und mauzte der Herrin sein gewöhnliches Lied vor.
Frau Elbruch nahm die Schlüssel aus ihrer Schürzentasche und öffnete die große Eichentür, die sie dann mit Mühe öffnete.. “Was mag wohl hinter dieser geheimnisvollen Tür sein ?” rätselte Ellen.
Plötzlich stolperte sie, und der Kater nahm dieses Geräusch zum Anlass, in die Dunkelheit zu entschlüpfen. Die Herrin blieb stehen, wandte sich um und horchte.
Als sie außer den vom Wind klappernden Fensterläden nichts bemerkte, murmelte sie:
“Ein Teufelswetter, das alle erschreckt !” Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, ging sie in das große Zimmer, stellte den Leuchter auf einen steinernen Tisch und wandte sich einem Heiligenbild zu.
Ellen schaute krampfhaft in das Halbdunkel, wo in einer entfernten Ecke die Figur der einsamen Herrin kaum auszumachen war. Da entlockte das Gesehene Ellen einen Schrei.. Sie erstickte ihn jedoch, indem sie sich die Hand vor den Mund hielt und ließ ihn nicht hinaus. Mit leisem, gedämpftem Stöhnen ließ sie sich langsam auf den Fußboden. In diesem unpassenden Moment tauchte der Kater auf und kratzte Ellen, als wenn er sie für ihre Neugier bestrafen wollte und verschwand.
Den Schmerz unterdrückend, stieg Ellen vorsichtig die Treppe nach oben, um nicht von der Herrin entdeckt zu werden. Sie hörte die Herrin mit dem Kater schimpfen: “Was spielst du heute verrückt ? So kenne ich dich nicht, geh weg !”, und sie ergriff ihn am Fell und wollte ihn durch das offene Fenster auf die Straße werden. Der Kater widersetzte sich jedoch, weil er nicht draußen im Regen nass werden wollte und kratzte seine Herrin. Aber schließlich wurde er ausquartiert.
Nun wollte Frau Elbruch doch herausbekommen, worauf das eigenartige Benehmen ihrer guten Hauskatze heute zurückzuführen sei. Sie stieg nach oben, durchsuchte alle Winkel, und erst, als sie sich überzeugt hatte, dass alles ringsherum ruhig war, stieg sie wieder in den Keller hinunter. Ellen hatte sich inzwischen erfolgreich hinter einer breiten dunkelroten Gardine versteckt. Draußen regnete es stark. Die Fensterläden machten wie vorher laute Geräusche.
“Ach, mein Armer, hast du unschuldig leiden müssen ! murmelte die Frau und fügte für sich hinzu: “Jetzt wird er wieder drei Tage streunen gehen, ich kenne doch seine Gewohnheiten ..”
Ellen steckte den Kopf hinter der Gardine hervor, zog sich die Hausschuhe aus und ging leise zu ihrem Schlafzimmer. Plötzlich war aus dem Keller ein zartes Pfeifen zu hören. Irgendjemand pfiff eine komplizierte Melodie. Sie wollte gern mehr hören, traute sich aber nicht mehr, näher an den Keller heranzugehen.. Von dem einen Abenteuer hatte sie schon genug. Eine Weile war das Pfeifen auch im Schlafzimmer noch zu hören. Dann wurde alles still. Als sie ins Bett ging, war es zwei Uhr nachts, aber schlafen konnte sie nicht. In der Tiefe ihrer Seele verbarg sich eine Furcht. Sie musste eine Schlaftablette nehmen.
Als sie erwachte, schaute die Morgensonne zärtlich in ihr Fenster und schickte einen Strahl auf ihr Kissen. -Wie schön ! Heute habe ich einen freien Tag.. Da werde ich in die Stadt fahren und durch die Läden gehen .. - Als sie in den Spiegel guckte, erblickte sie auf ihrem Gesicht zwei lange Kratzer. Da erinnerte sie sich an den gestrigen Graus. “Was konnte das sein ? Habe ich das alles geträumt ?” Aber die Kratzer im Gesicht waren durchaus real. Der nächtliche Spaziergang durch das Haus musste irgendwie übertüncht werden. Ellen ergriff aus ihrer Kosmetiktasche tönenden Creme und Puder, um die Spuren zu “verspachteln“. Glücklicherweise gelang es ihr.
Das Mädchen ging hinunter in den Salon, wo die Herrin wie gewöhnlich im Sessel lag. Als sie Ellen erblickte, sagte sie beunruhigt:
- Mein Kind, geht es dir nicht gut ? Du siehst so blass aus !-
- Nein, nein, Herrin, - antwortete Ellen, nahm sich zusammen und lächelte dankbar..
- Du bist heute zwei Stunden später als gewöhnlich aufgestanden. -
- Das stimmt, aber ich habe heute einen freien Tag… -
- Ja, du hast recht, - unterbrach sie die Herrin und forderte Ellen auf, mit ihr zu frühstücken. Auf das übliche Klatschen der Herrin kam ein Liliputaner herein.
- Weil du heute frei hast, - lächelte die Herrin - wird uns heute Amis bedienen. So heißt mein Angestellter. -
Ellen hatte ohne Mühe einen der kleinen, aber flinken Gärtner erkannt.. Sie gaben sich die Hände. Der Liliputaner verneigte sich als Zeichen des Dankes für die Aufmerksamkeit. Die Herrin hatte heute eine wunderbare Laune.. Sie lachte und schwatzte unaufhörlich. Das Mädchen bemühte sich, die Laune der Herrin aufrecht zu erhalten, weil sie wusste, wie selten eine solche war.
- Heute, Ellen, frühstücken wir zusammen, und das ist für mich ein großes Vergnügen! Gewöhnlich vergeht mir der Appetit, wenn ich so traurig allein da sitze.-
Ellen wurde von den Worten der Herrin verlegen, weil sie wusste, dass diese Dame es liebte, sich die Zeit allein zu verkürzen und niemand in ihre Welt hinein ließ. - Vielleicht treibt sie mit mir ein Spiel ? - Aber dann dachte sie: - Wie kann ich sie verurteilen ? Sie bezahlt mich doch gut. Sie hat mir die Luft der Freiheit gewährt… Und wenn sie spielt, so muss man logisch spielen können. Besser das Mäuschen bleiben. Und dann werden wir sehen .. -
In diesem Moment klingelte das Telefon. Die Herrin griff langsam zum Hörer, hüstelte in die Faust und sagte: - Ja, ich höre. Ach, Herr Schmidt ? Ja, ja, Sie haben mich recht verstanden. Sie brauchen sich nicht bei mir zu bedanken.. Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Ja, ja, ich bin sehr zufrieden mit meiner Haushaltshilfe.. Alles Gute, Herr Schmidt. Danke für Ihren Anruf. Auf Wiedersehen ! - Frau Elbruch legte den Hörer auf das Telefon und lachte laut: - Kannst du dir vorstellen, Ellen, dort haben sie Sehnsucht nach mir ! Keiner schimpft mit ihnen so wie ich. Die Firma langweilt sich anscheinend ohne mich, - fuhr die Herrin prustend fort. - Offenbar haben sie nur mich mit solchen Launen.-
Sie klatschte befehlend in die Hände, und schon erschien vor ihr in der Haltung eines Zinnsoldaten der Liliputaner in Erwartung eines Auftrags. Sie rief ihn zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, aber so, dass es alle hören konnten:
- Bring mir meinen Lieblingswein Lambrasor. Heute will ich auf Ellen trinken, auf die ergebenste Haushaltshilfe, die ich in meinem Leben hatte ! -
Der Liliputaner schwand in den Keller, und die Herrin teilte dem Mädchen mit, dass der Autoschlüssel ungeduldig auf dem Tisch auf sie warte und sie zu ihrem Vergnügen in die Stadt fahren könne.
Dann nahm sie im Sessel ihre gewohnte Dornröschen-Haltung ein.
Ellen nahm die Autoschlüssel vom Tisch, verneigte sich dankbar vor der Herrin und ging eilig in den Hof. Frau Elbruch hatte in ihrer Jugend selbst versucht, Auto zu fahren. Ihr Mann hatte jedoch einen Unfall befürchtet, weil sie panische Angst vor entgegenkommenden Autos hatte. Wie leicht hätte sie deswegen das Bremspedal mit dem Gaspedal verwechseln können. Nach dem Tode ihres Mannes war sie nur einmal in die Stadt gefahren und geriet in den Straßengraben.
… Ellen war in guter Stimmung aus der Stadt zurückgekehrt und sang ein fröhliches Lied. Sie öffnete die Tür und … blieb stehen. Aus dem Zimmer der Herrin trat ein Mann mit einer großen Arzttasche.. - Ist mit der Herrin etwas passiert ? - ging es Ellen durch den Kopf. Als der Doktor in ihren Augen die Besorgnis wahrnahm, sagte er mit ruhiger Stimme: - Regen Sie sich nicht auf, es ist schon wieder alles in Ordnung. Jetzt soll sie schlafen.. Sie hatte wohl etwas zu viel Wein getrunken und stolperte auf der Treppe, die in den Keller führt. Aber, ich versichere Ihnen, Madame, es ist nichts Schlimmes.. Die Hauptsache ist jetzt - keinerlei Panik. -
Als der Doktor gegangen war, schaute Ellen in das Zimmer der Herrin, um sich zu überzeugen, ob wirklich alles in Ordnung war. Am Bett erblickte sie die Liliputaner.. Das Mädchen betrat geräuschlos das Zimmer und sah an seinen von Tränen geröteten Augen, dass Amis weinte. Der andere saß mit geschlossenen Augen schweigend auf einem Stuhl, bewegte den Oberkörper hin und her und betete mit gefalteten Händen um Gottes Hilfe.
Sie wunderten sich nicht über ihr Erscheinen und forderten sie auf, sich neben sie zu setzen. Ohne etwas zu fragen, richtete das Mädchen die Decke und deckte die Beine besser zu. Auf dem Gesicht der Herrin spiegelte sich Besorgtheit. Sie atmete leise und gleichmäßig. Amis und Hannes - so hieß der zweite schmale Liliputaner, verhielten sich ganz still. Es schien, als hätten sie sich schon von der Herrin verabschiedet.
Plötzlich bewegte sich jedoch Frau Elbruch und verlangte zu trinken.
Amis schoss wie eine Kugel aus dem Zimmer und kam nach zwei Minuten mit einer Karaffe mit Orangensaft (dem Lieblingsgetränk der Herrin) zurück. Sie öffnete die Augen und versuchte ihre Umgebung zu erkennen. Ellen half ihr, sich langsam aufzurichten.. Nachdem sie zwei Schlucke Saft getrunken hatte, fragte die Herrin mit schwacher Stimme: - Amis, bist du da ? Ich möchte gern Ellen sehen.
- Ja, Herrin, ich bin hier zusammen mit den Gärtnern. -
- Sehr gut, ich bin froh, dass alle meine Angestellten zusammen sind. Ich möchte sehr gern, - fügte sie fast flüsternd hinzu, - dass ihr miteinander befreundet seid. -
- Ja, Herrin, Ihr Wunsch wird erfüllt werden, - antwortete Hannes mit heiserer Stimme.
Die Herrin legte sich zurück und sagte leise: - Und nun lasst mich allein.
Ich möchte schlafen. -
…Frau Elbruchs Befinden hatte sich merklich gebessert. Das blasse Gesicht trug jedoch immer noch den Stempel der Übelkeit. Hier nun konnte Ellen alle ihre Fähigkeiten mobilisieren, um ihrer Herrin zur Genesung zu helfen. Jeden Abend massierte sie sie, jeden Tag fuhr sie sie im Rollstuhl spazieren. Abends, wenn die Herrin vor dem Schlafengehen im Garten frische Luft schöpfte, las ihr das Mädchen
Bücher vor. …Das Liebste waren der Herrin Bäder mit Rosenblättern.
Die Fürsorge der geliebten Haushaltshilfe blieb nicht unbeachtet. Die Herrin schloss sich so an sie an, dass Ellen sich manchmal als die Herrin fühlte.. Sie wollte schon lange darüber sprechen, warum Frau Elbruch keine Kinder hatte. Aber sie erinnerte sich an den Ausspruch eines College-Lehrers: Ungesunde Neugier verdirbt die Autorität. Darum wartete sie geduldig, bis die Herrn von selbst darauf zu sprechen kommen würde.
Die gemeinsame Sorge um die Gesundheit der Herrin brachte Ellen und die Liliputaner einander näher. Bei den Spaziergängen im Garten beobachtete sie mit Interesse die Arbeit der beiden Kleinen. Amis, der dem Aussehen nach ungelenkere Dicke, stand seinem flinkeren Genossen in nichts nach. So verwischte die Zeit im Gedächtnis allmählich die Ereignisse jener schrecklichen, geheimnisvollen Nacht.. Jetzt schien es ihr, als ob alle jene unwahrscheinlichen Ängste nicht mehr waren, als die eigene Einbildung, genährt von den Abenteuern Sherlock Holmes aus dem Buch von Arthur Conan Doyl.
Nach einem Monat war die Herrin wieder gesund und fröhlich. Ihr Gesicht war wieder mit Röte bedeckt. Jetzt nahmen sie zusammen das Abendbrot ein, wie eine Familie. Obwohl die Liliputaner wenig aßen, blieben sie jedoch immer bis zum Ende des gemeinsamen Mahls am Tisch und unterstrichen damit ihre besondere Wertschätzung gegenüber den Damen.
- Ellen, bei dir hat in der Nacht wieder nach 12 Uhr das Licht gebrannt.
Du bist wohl eingeschlafen und hast vergessen, die Lampe auszumachen.. -
- Ja, liebe Herrin, ich bin eingeschlafen und habe die Nachttischlampe vergessen. Verzeihen Sie mir, es wird nicht wieder vorkommen. -
- Du weißt doch, Ellen, - fuhr die Herrin vorwurfsvoll fort, - ich erlaube dir alles: gebe dir zwei freie Tage. Aber ich vergesse nicht meine Bedingungen. Vergiss auch du bitte nicht deine Verpflichtungen. -
Damit war das Gespräch beendet, das Abendessen auch. Die Herrin erhob sich, dann standen auch Amis und Hannes auf. Der Vorwurf der Herrin hatte einen unangenehmen Nachgeschmack in der Seele des Mädchens hinterlassen. Sie war wirklich eingeschlafen und hatte vergessen, die Nachtlampe auszuschalten. Aber wer hatte sie dann ausgeschaltet ? Das war rätselhaft …
Übrigens wunderte sich das Mädchen schon lange nicht mehr über das launische Benehmen der Herrin. Und trotzdem ärgerte es sie, dass die Herrin so extrem reagierte: - Mal liebt sie mich über alles, mal spricht sie mit mir mit fremder Stimme..
Als Ellen sich ins Bett legte, fiel ihr ein, dass Amis ihr vorgestern im Garten eine neue Ecke gezeigt hatte, die mit den Händen der Liliputaner gestaltet worden war. Von ihrer Arbeit begeistert, hatte das Mädchen gefragt, wie sie hierher gekommen waren . Amis hatte Ellen in die Lieblingslaube der Herrin gebeten und sie aufgefordert, auf einer zierlich gestalteten Parkbank, die mit Kissen ausgelegt war, Platz zu nehmen. Dann begann er zu erzählen.
Seine Stimme klang fast wie die eines Kindes. Aus seiner Erzählung erfuhr sie, dass Amis und Hannes Zwillingsbrüder sind. Da sie sich im Gesicht und körperlich nicht ähnelten, hatte Ellen schon gedacht, dass der eine mehr nach der Mutter komme und der andere mehr nach dem Vater. Zusammen mit den Eltern hatten die Zwillinge im Zirkus gearbeitet und waren durch Städte und Dörfer gezogen.
Die Jungen waren 20 Jahre alt, als ein Unglück passierte. Bei einer der Vorstellungen war ihr Vater - ein Seiltänzer - aus 25 m Höhe herabgestürzt. Bald danach verstarb auch die Mutter. Somit war der Familienzirkus am Ende. Die verwaisten Brüder schlugen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Meistens aber hatten sie keinen Erfolg - wer wollte schon mit Liliputanern zu tun haben.
Dann jedoch kamen sie auf Grund einer Zeitungsanzeige zu Frau Elbruch.
Bei ihrem Anblick lachte diese laut auf und erlaubte sich unanständige Äußerungen.
Die Brüder wollten schon beleidigt fortgehen. Plötzlich wurde die Herrin still, und als wenn sie zu sich gekommen war, bot sie ihnen eine zweiwöchige Probezeit an.
In einer Woche erledigten die Brüder, was niemand sonst in einem Monat hätte erledigen können. Mit einem Wort, sie verwandelten den vernachlässigten Garten in ein blühendes Paradies ! Als die Herrin das sah, verlor sie die Sprache.
Zitternd vor Glück, lief sie wie ein Kind durch den Garten und glaubte ihren Augen nicht, dass sich so ein Wunder ereignet hatte, eine Zauberei ! ..
- Seit der Zeit arbeiten wir bei ihr, nun sind es schon fünf Jahre. -
Nach den angenehmen Erinnerungen aus der Erzählung von Amis fielen Ellen die Augen zu. Diesmal schlief sie, nachdem sie die Lampe gelöscht hatte, rascher als gewöhnlich ein. Plötzlich jedoch drang durch den Schlaf aus dem Korridor ein musikalisches Pfeifen an ihr feines Gehör. Es war genau so wie damals. Der Schlaf verflog augenblicklich. Sie bekam Schüttelfrost und ihr wurde bange.
Was war zu tun ? Ellen hörte im Korridor deutliche Schritte. Es schien, als ob sie sich ihrem Zimmer näherten. Und sie hatte sich nicht geirrt. Jemand verhielt an ihrer Schwelle.
Der verzierte Türgriff drehte sich kaum hörbar um seine Achse und neigte sich kurz nach unten. Ellen tauchte vor Angst unter die Bettdecke, sah jedoch durch einen Spalt, wie durch die halb geöffnete Tür der überall anzutreffende Kater gemächlich hereinkam.
- Pfui, du alter Teufel ! Was hast du hier verloren ? - wunderte sich das Dienstmädchen und hörte gleich darauf ein Flüstern der Herrin: - Wo willst du denn hin, wir gehen weiter. - Der Kater kehrte gehorsam um und verließ das Zimmer.
Die Tür schloss sich langsam, und der künstlerische Pfeifton schmolz in der nächtlichen Stille.
Das Mädchen wunderte sich: - Wie konnte so ein kleines Tier in das Zimmer kommen, die Klinke ist doch so hoch oben ! Oder hat die Herrin selbst ihn eingelassen ? Aber warum hat sie dann den Kater zurückgerufen ? -
Inzwischen waren keine Schritte mehr zu hören, und das Pfeifen war verstummt.. Ellen stand langsam aus dem Bett auf, ging zum Fenster und öffnete die Luftklappe. Von der Straße zog es kühl. Der Mond lächelte ihr freundlich zu, umgeben von kristallartigen Sternen, die über den Samt des Himmelszeltes verstreut waren.
Nach einigen tiefen Zügen frischer Luft schloss sie die Luftklappe und erfreute sich weiterhin an der Schönheit des Nachthimmels. - Heute muss ich etwas unternehmen. Ich kann nicht länger in diesem endlosen Rätsel leben.. -
Ellen warf sich einen Morgenmantel über, zog Pantoffeln an und ging leise aus dem Zimmer. Sie kannte schon den Weg ihrer Herrin und bemühte sich, wie vordem unsichtbar zu bleiben. Plötzlich erregte die erschreckende Stille ihre Aufmerksamkeit. Ellen ging unhörbar den Korridor entlang, kam zur Treppe, die in den Keller führte.
Im Schein der Kerze, die in der rechten Hand der Herrin zitterte, erkannte sie jetzt die Gestalt ihrer Herrin, die in der linken Hand eine große Schale mit gebratenem Fleisch trug. Angelockt von dem Bratengeschmack trollte der Kater hinter ihr her..
Er rieb sich an ihren Beinen, dass sie kaum gehen konnte. Diesmal verhielt sich Ellen absolut still.
Die massive Kellertür war schon geöffnet, als die Alte hineinging. Sie stellte die Fleischschüssel, die mit einem Küchentuch abgedeckt war, auf den Tisch.
Die Kerze stellte sie näher zu der Ikone.
Ellen verbarg sich hinter der Tür. Nach einem Gebet stand die Herrin auf, und da erblickte das Mädchen mit Erstaunen ein blaues Leuchten, das von dem
Heiligenbild ausging. Die Herrin trat an die Ikone heran und küsste sie.
Daraufhin öffnete sich auf der Ikone mit der Darstellung von Jesus Christus langsam eine verborgene rätselhafte Flügeltür. Die Herrin nahm die Fleischschüssel in die Hände und betrat den dahinter liegenden unbekannten Raum.
In der Befürchtung, dass sich die Flügeltür der Ikone schließen würde, schlüpfte Ellen flink wie eine Maus hinter der Alten hinein und versteckte sich hinter einer im Dunkeln kaum bemerkbaren Säule.. Die einzige Kerze, die die Herrin jetzt in der rechten Hand hielt, beleuchtete schwach den Raum. Aber Ellens Augen gewöhnten sich allmählich an das Halbdunkel. An einem runden Eichentisch erblickte sie fünf Männer in schwarzen Zylindern, die auf Holzstühlen saßen.
Sie waren völlig schwarz gekleidet.
Der sechste Stuhl erwartete die Herrin. Sie hatte die Schüssel mit der Kerze auf den Tisch gestellt und ihren Platz eingenommen. Zusammen mit allen faltete sie die Hände zu einem stummen Gebet. Als sie sich im Halbdunkel besser zurechtfand, erkannte sie die Umrisse der zwei Gärtner, Amis und Hannes. Die anderen drei waren ihr unbekannt. Eine in die Wand bis zur vollen Raumhöhe eingelassene Uhr schlug 1.
- Es ist Zeit für uns - sagte die Herrin mit leiser Stimme. Alle standen auf und gingen zu einem anderen Ausgang, dem Heiligenbild gegenüber. Er führte zur Straße. Ohne ihn erreicht zu haben, drehte sich die Herrin plötzlich jäh um und sagte halblaut:
- Ich spüre, hier ist jemand Fremdes. -
Ellen erzitterte von diesen Worten und hielt den Atem an.
- Amis -, rief die Herrin, - nimm die andere Kerze und geh um die Säulen herum, guck in alle Winkel, wir aber gehen weiter. Du holst uns dann ein. -
Amis durchsuchte alle Winkel. Als er auf Ellen stieß, hätte er vor Schreck fast
aufgeschrieen.. Das Dienstmädchen zog ihn heran und verschloss ihm den Mund:
- Amis, mein Lieber, verrate mich nicht. Was passiert denn hier ? -
- Liebe Ellen, du darfst nicht hier sein. Geh rasch weg, bevor sich die Ikonentür schließt. Sonst erfährt die Herrin, dass du ihr nachgehst… -
- Aber Amis, ich will doch alles wissen.. -
Da ertönte die laute rufende Stimme der Herrin:
- Wo bist du ? Die Zeit läuft ab. Sonst schaffen wir es nicht ! -
- Ich komme schon, Herrin ! Nachher erzähle ich dir alles. Aber jetzt lauf, -
flüsterte er ihr mit bittendem Ton zu.
Das Mädchen musste sich fügen. Die Ikonentür schloss sich sogleich hinter ihr, als hätte sie darauf gewartet, dass die Dienerin den Raum verlässt.
- In diesem Haus passiert also tatsächlich etwas Geheimnisvolles. Welches Geheimnis verbirgt die Herrin und womit hängt das zusammen ? .. verlor sich Ellen in Rätseln. - Geduld, Ellen, - das Mädchen rieb sich erfreut die Hände. - Amis wird mich nicht verraten. Er wird mir alles erzählen.. -
Sie stieg in ihr Zimmer hoch, trat zum Fenster und beschaute die nächtliche Landschaft.. Am Himmel zeichneten sich die grauen Umrisse der Wolken ab. Grillen und Zikaden spielten ihr endloses Lied. Der Mond schwamm über den Himmel und tauchte lustig unter die Wolkenlocken. Es war zu hören, wie der künstlich in einem Kanal verlaufende Bach rauschte, wobei sich der Mond in dem Wasser spiegelte..
Wir finden nicht immer Zeit, um den verzaubernden Augenblick in der Natur anzuschauen.
Ellen fielen die Augen zu. Sie wollte gerade ins Bett gehen, als jemand ans Fenster klopfte.. Sie wandte sich um und sah einen pechschwarzen Vogel auf dem Fensterbrett sitzen.. Es war ein Rabe.
- Mein Gott ! - rief das Mädchen. - Das hat mir gerade heute noch gefehlt.
- Geh weg -, versuchte Ellen mit einer Handbewegung den prophetischen Vogel zu verjagen.. Die wie Feuer glitzernden Augen des schwarzen Raben zwangen sie jedoch in ihrer Stellung zu verharren. Sie war von dem Vogel wie hypnotisiert.
In diesem Moment sah Ellen die sechs über den Hof gehen. Die Herrin führte die Prozession an. Eng neben ihr trippelte der Kater. Dann kamen die Gäste. Zwei trugen ein Kästchen, das wie ein kleiner Sarg aussah. Zwei andere folgten mit einem Kranz. Die Liliputaner trugen zwei riesige Kerzen. Die Prozession schritt langsam in die Tiefe des Gartens und löste sich alsbald in der Dunkelheit auf.
Schwarze Wollen hatten den ganzen Himmel überzogen, als wenn sie die geheime Mission der nächtlichen Prozession zudecken wollten. Inzwischen war es draußen vollkommen dunkel geworden. Der Rabe saß weiterhin wie versteinert auf dem Fensterbrett, wie ein Dirigent des verwunschenen Ereignisses.
Irgendwo im Wald krächzte ein Uhu. Einige Fledermäuse zischten in der Luft.. Mit ihnen verschwand, mit den schwarzen Flügeln schlagend, der Rabe.
Ellen war kalt geworden und sie ging endlich ins Bett. Halb im Schlaf hörte sie noch den Uhu, die Geräusche draußen vorbei fliegender unbekannter Vögel und erkannte das angenehme Rauschen eines beginnenden Regens. Unter diesem Schlaflied schlief sie ein.
Am frühen Morgen erblickte sie an ihrem Bett den ihr bekannten Doktor, der sonst bei der Herrin verkehrte, und Amis mit einem Handtuch in der Hand.
- Ist mit mir etwas, Doktor ? - fragte das Mädchen zitternd.
- Ja, Ellen. Du hast die ganze Nacht fantasiert. Du hattest Fieber und Schüttelfrost. Die Herrin war besorgt und hat mich rasch gerufen. Aber jetzt geht es dir besser, wie ich sehe. Ich habe dir eine Beruhigungsspritze gegeben, und du bist gleich eingeschlafen. Amis und ich sind die ganze Zeit bei dir geblieben. -
- Das kann nicht sein, - protestierte das Mädchen. - Ich bin gesund. Und ich kann mich gut erinnern, wie ich bei dem Regen eingeschlafen bin. Es war drei Uhr nachts. Ich kann mich an alles erinnern … -
- Es ist mir kein großes Vergnügen, hier bei Ihnen zu sitzen, wenn Sie gesund sind, - unterbrach sie der Doktor. - Und gestern gab es keinen Regen. -
Ellen bemerkte, wie ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen. - Hat er wirklich die ganze Nacht bei mir gesessen ? Nein, das kann nicht sein. - Vor Kränkung und Schwäche fing sie an bitter zu weinen.
In diesem Moment kam die Herrin herein und bat den Doktor und Amis hinauszugehen: - Ellen muss sich ausruhen, sie braucht Ruhe. Amis, bring ihr frischen Apfelsinensaft und ein sauberes Glas und schau ab und zu zu ihr herein. Heute geht es unserem Mädchen nicht gut. Aber ich denke, morgen wird ihr schon besser sein, - sagte sie und ging hinaus.
Amis brachte den frischen Saft, goss ihn in ein Glas, stellte es neben sie auf einen Hocker und ging hinaus. Nach einigen Minuten kam er mit einem großen Rosenstrauß in einer Kristallvase zurück.
- Was bis du für ein guter Mensch, - sagte Ellen leise. - Geh nicht weg, mir ist hier allein langweilig. -
- Ich kann für etwa zehn Minuten hier bleiben. Dann muss ich der Herrin helfen und im Garten Ordnung schaffen nach dem Regen am Donnerstag. -
- Ich weiß, du und dein Bruder, ihr seid sehr fleißig -, sagte Ellen, schloss die Augen und schlief ein. Amis küsste sie auf die Wange und ging fort.
Irgendwo in der Tiefe des Gartens erklang eine ruhige Melodie aus “Dornröschen” von Tschaikowski. Die Herrin liebte es, mit dieser Musik einzuschlafen.. Plötzlich erinnerte sich Ellen an die Worte von Amis, dass im Garten aufzuräumen sei nach dem Regen am Donnerstag. Dann hatte es also doch geregnet, der Doktor hatte aber behauptet, dass kein Regen gewesen war. Ellen stand auf. Sie fühlte einen leichten Schwindel und einen Schmerz im linken Arm. Da sah sie den großen blauen Fleck von der ungeschickt verabreichten Spritze.. - Was war gestern nur passiert ?..- Mit meinem Gedächtnis ist doch alles in Ordnung. Den ganzen gestrigen Schrecken kann ich nicht geträumt haben, das weiß ich genau. -
Ellen stand am Fenster, schaute in den Hof und bemerkte kaum getrocknete Pfützen.. - Natürlich hat es geregnet, warum herumrätseln ! .. Jetzt war sie endgültig davon überzeugt, dass ein Spiel gespielt wurde. - Aber welche Rolle spielt dabei der Doktor, der in letzter Zeit so häufig zur Herrin kommt ? Die Hauptsache ist, ich muss mich zusammennehmen und in diesem Stück die Dumme spielen, aber ich darf mich nicht verraten. -
Sie ging näher zu dem Rosenstrauß heran, atmete den belebenden Duft ein und fand einen Zettel.: - Liebe Ellen, morgen um Mitternacht erwarte ich dich im Garten an unserer Stelle. Vernichte den Zettel, Hannes soll davon nichts wissen.. Amis. -
Die krakelige Kinderhandschrift des Liliputaners erheiterte das Mädchen.
Hauptsache, er konnte sein Wort halten.
An der Tür klopfte es. Hannes brachte ihr das Frühstück. Jetzt erst merkte sie, wie hungrig sie war. Sie versteckte den Zettel unter dem Kissen und öffnete ihm dieTür.
- Du bist doch heute krank, Ellen. -
- Und wo ist Amis ? - fragte das Mädchen ruhig.
- Er hat bei der Herrin zu tun, - antwortete der Gärtner. Ihr tun schon seit langem die Füße weh. Der Doktor hat ihr Massagen verschrieben. Und die Rolle deines Sklaven - sagte Hannes halb scherzend - fiel auf mich. -
- Ich habe nichts dagegen, es ist mir egal, wer mich bedient, - schwindelte Ellen. - Das Spiel hat also angefangen -, beruhigte sie sich und machte sich an das Frühstück.
- Ja, Ellen, wenn es dir zum Abend besser geht, dann können wir heute zusammen zu Abend essen. Das ist die Bitte der Herrin ,- fügte Hannes im Hinausgehen hinzu.
- Natürlich, es geht mir schon jetzt besser. - Hannes ist zu achten, aber ein Freund wird er für mich nicht sein. -
Nach dem Frühstück ging Ellen hinunter in den Salon und hörte das leise Lachen der Herrin.. An der Tür sah sie durch ein Fenster, dass Amis der Herrin eilfertig, aber wohl auch kitzelnd, die Füße massierte.. Das hatte die Herrin zum Lachen gebracht.
Plötzlich lachte sie so ansteckend, dass sie kaum die eben eingetretene Ellen bemerkte.. Ellen umarmte die Herrin zärtlich und warnte sie im Scherz, dass von starkem Lachen die Gefäße platzen können. Da kam die Herrin wieder zu sich.
- Ach, meine Liebe ! Ich sehe, es geht dir schon wieder besser, - begann sie
gutgelaunt ein Gespräch. - Setz dich zu mir her, mein Kind. Um diese Zeit schlafe ich gewöhnlich. Aber Amis hat mich mit seiner Massage so munter gemacht, dass der Schlaf verflogen ist. Aber die Hauptsache ist - du bist mit uns. Heute ist ein so schönes Wetter, so eine frische, aromatische Luft nach dem Regen, dass ich nicht genug bekommen kann. -
- Ja, meine liebe Herrin, ich bin vollkommen Ihrer Meinung ! -
Ellen freute sich über die Worte zu dem Regen. - Also gab es doch einen Regen, vielleicht keinen starken, aber alle reden über ihn außer … -
- Heute werden uns von der Firma Arix mehrere Gipsstatuen gebracht. Den Auftrag hatte ich vor drei Monaten erteilt. Der Garten soll noch gemütlicher und luxuriöser aussehen. Es ist doch kein wilder Wald. Wir möchten nicht nur die Gaben der Natur genießen, sondern auch kulturelle Werte vor Augen haben, die Kunst der Bildhauer bewundern und stolz auf die Nähe zur Geschichte sein, die uns in den Gesichtern und Figuren großer Menschen verschiedener Epochen entgegentritt.
Das wird uns helfen, die Welt des Schönen besser zu verstehen, zu träumen und das Leben zu lieben.
- Ja, das ist wunderbar ! Ich unterstütze Ihre Idee. Die Schönheit geht über alles. -
- Es schien bisher, als ob in meinem Garten alles vorhanden wäre: sowohl für das Haus, als auch für die Seele. All das siehst du mit deinen Augen.. Aber, wie immer, nach einiger Zeit suche ich nach etwas anderem, nach einer Erneuerung..
Ich denke, darin sieht man unsere- scherzhaft gesagt - unersättliche weibliche Psychologie.. Der wichtigste Reichtum sind natürlich die Blumen. Ich liebe sie so sehr, dass ich den Gedanken verbanne, dass jemand in meinem Garten rauchen könnte. Es ist Sünde, den heiligen Duft der zauberhaften Pflanzen zu verderben..
- Ellen, lass uns ein kleines Gedankenspiel spielen, - schlug die Herrin vor und bewegte sich unruhig in ihrem Sessel. - Wie denkst du, was war eher da, das Ei oder die Henne ? -
Ellen lächelte schelmisch und antwortete scherzhaft: - Wahrscheinlich der Hahn.. -
Da lachten sie beide laut auf, ohne sich verabredet zu haben.
- Nun schlagen sich die Gelehrten das ganze Leben mit dieser Frage herum. Der Mensch ist doch das Haupträtsel, - ergänzte Ellen. Frau Elbruch nickte zustimmend und fuhr fort: - Aber muss man denn immer nach einer Lösung suchen, um das von klugen Leuten gewickelte Knäul der unwahrscheinlichsten Vermutungen
zu entwirren ? Jeder versucht zu beweisen, dass seine Wahrheit unbestritten ist.
Je mehr man an diese zweifelhafte Wahrheit glaubt, um so dogmatischer wird die Schlussfolgerung.. Und die Welt verwandelt sich in deinem Bewusstsein in eine komplette Fantasie.. Unsere Blindheit hilft, an Illusionen zu glauben. Sie sind doch so anziehend .. Nun sag mal, können wir das Himmelreich erreichen ? Wir sind doch alle, ehrlich gesagt, zur Unwissenheit verdammt, - sagte die Herrin und machte eine Pause, um einen Schluck Saft zu trinken. Dann hüstelte sie gewöhnlich..
- Ellen, bist du mit meiner Philosophie einverstanden ? -
- Ja, Herrin. Auch mich interessiert dieser Gegenstand. Ich habe schon so viel gelesen ! .. Und trotzdem verstehe ich unsere Welt nicht. Das, was wir Realität nennen, erscheint mir nur eine vorübergehende Widerspiegelung irgendjemandes wirrer Gedankengänge. Wir sind doch alle Götzenanbeter. Wir benötigen Darstellungen anstatt ernsthaft in den Kern vorzudringen, die Bibel ehrlich zu studieren, Gott und seine Wahrheit mit dem Verstand zu erreichen.
- Ja, Ellen, du hast recht. Wie angenehm ist es, sich mit einem Menschen zu unterhalten, der etwas von Philosophie versteht und logisch denken kann.
Nur Dumme haben für nichts Interesse, - fügte Frau Elbruch hinzu. Ich habe irgendwo gelesen, dass die Legende kein Objekt der Theologie ist. Es ist eher etwas in der Art metaphysischer Streitigkeiten oder eine Sammlung von Geschichten. Oft beginnen wir selber daran zu glauben, ohne uns die Mühe zu machen, bis zur Wahrheit vorzudringen, die in der Legende liegt. -
Hier schwieg die Herrin eine Minute, grub in ihrem Gedächtnis nach einer vergessenen Legende und erzählte sie dann mit nachdenklicher Stimme, so als ob sie am Bettchen einer kleinen Tochter säße und ihr vor dem Einschlafen ein Märchen erzähle:
- Es ist schon lange her. Die Menschen waren daran gewöhnt, lange zu beobachten, wie ein kristallklarer Stern voller zauberhafter Schönheit am Himmel strahlte.. Alle nannten ihn die kleine Prinzessin des Himmelsgewölbes. -
Ellen spürte die ihr zugewandte seelische Wärme von Frau Elbruch und hätte vor Rührung fast geweint.
- Lange strahlte der Stern dort am Himmel und entzückte die Bewohner des Weltalls.. Dann kam jedoch die Zeit, wo die Prinzessin zu verblassen anfing und sich merklich dem Horizont zuneigte. Niemand wollte glauben, dass der geliebte Stern in Kürze hinter dem Horizont verschwinden würde. Die Nachbarsterne sahen, wie die Kräfte das Juwel des Himmels zu verlassen drohten und versuchten, ihn zu stützen.
Aber sie waren hilflos gegenüber den Gesetzen der Natur. Der von allen geliebte Stern neigte sich hinter die Hügelkette und … ehe er erlosch, verabschiedete er sich von seinen Bewunderern mit seinen schwachen Strahlen.
Die Menschen beteten zum Allmächtigen, er möge dem Himmel die einzigartige Zier zurückgeben. Der klare Mond wirkte wie verwaist ohne seinen strahlenden Nachbarn, nun hatte er das liebe Geschöpf mit den strahlenden Wimpern aus seinem Blickfeld verloren. Und plötzlich hörte er die zärtliche Stimme des Himmlischen Vaters, der dem Nachtgestirn den Auftrag gab, den schlafenden Stern zu wecken, ihn mit seinen zarten Strahlen zu wärmen und ihm ein neues Leben einzugeben.
Es vergingen siebzig Tage. Ein Hirte, der seine Schafe am Hang eines Hügels weidete, schaute nach Osten und sah, dass der Horizont von einer golden schimmernden Flamme übergossen war. Er verstand, dass ein Wunder geschehen war: die Kristallprinzessin war neu geboren ! Der Hirte erstarrte vor Erstaunen und Freude.
Da war er wieder, ihr Lieblingsstern war wieder auferstanden.
Der Hirt lief in die Siedlung und rief: - Ihr Leute, wacht auf ! Die Himmlische Prinzessin ist wieder da ! Gott hat unser Flehen erhört und dem Mond befohlen, sie wieder zum Leben zu erwecken. Sie dankt ihrem Schöpfer und grüßt Euch !-..
Frau Elbruch schwieg. Sie trank ein halbes Glas Apfelsinensaft und schaute Ellen an, die diesem Märchen wie gebannt gelauscht hatte.
- Was hat diese Legende in dir angeregt , Ellen ? -
Das Mädchen fand aus ihren süßen Gedanken, die durch die Erzählung der ungewöhnlich zärtlichen Herrin hervorgerufen waren, zurück.
- Vielen Dank, Frau Elbruch. Ich meine, - sammelte Ellen ihre Gedanken,
- alle Lebende - Sterne, Pflanzen, Tiere und wir - sind Ankömmlinge aus dem Kosmos. Wenn wir auf der Erde sterben, werden wir neu geboren. Das ist doch wunderbar, und man braucht den Tod nicht zu fürchten. Der Tod ist doch offenbar die parallele Grenze zu dem neuen, uns unbekannten Leben.
- So ist es. Ich bin mit dir einverstanden, Ellen. Die Sterne sind der erste Beweis dafür, dass wir zur lebendigen Realität gehören. Denn die Sterne lenken uns, aber wir empfinden das anscheinend gar nicht. Und auf der Erde halte ich die Blumen für die lebendige Realität. Warum spreche ich mit ihnen, wenn ich im Garten bin ? Ja, weil sie das brauchen. Und das hat die Wissenschaft bewiesen. Charles Darwin hat als erster bei den Pflanzen die Fähigkeit zum Denken festgestellt.
George Washington Carver hat mit den Pflanzen gesprochen, und sie haben ihm geholfen, Hunderte neue Stoffe zu entdecken. Er hat gesagt: Wenn ich eine Blume berühre, berühre ich die Unendlichkeit. Blumen und auch Sterne gab es auf der Erde lange vor der Existenz des Menschen. Sie sind unsterblich.
Ein erstaunliches Experiment wurde in Denver von dem College-Professor Temple Buell durchgeführt. Er setzte gewöhnliche Pflanzen in drei verschiedene Glaskästen.
In einem ertönte Rockmusik, in dem anderen Musik indischer Sitaren, und im dritten war völlige Stille. Nach zwei Wochen waren die Pflanzen in dem Kasten mit Rock-Musik verdorben, in dem Kasten ohne Musik wuchsen sie normal, und in dem Kasten, in dem weichen Sitar-Klänge ertönten, ergaben sie herrliche Knospen, die in die Richtung der Zauberklänge geneigt waren. Ellen, jetzt verstehst du, warum im Garten manchmal ruhige klassische Musik zu hören ist ? …
- Ja, Herrin, ich habe gemerkt, dass die Blumen fein auf ihre Umwelt
reagieren . Ich kann hinzufügen, dass die Blumen auch Schmerz empfinden können und sich wehren können. Orchideen, die nach faulem Fleisch riechen, ziehen Fliegen an, die vernichtet werden. Der rosa Frauenschuh ergreift die auf ihm sitzende Biene mit der oberen Lippe. Aber die Bienen haben einen Ausweg gefunden im schmalen hinteren Teil der Pflanze und fliegen mit dem gesammelten Blütenstaub hinaus. Solcher Beispiele gibt es viele. Das beweist, dass eine Pflanze sieht, hört und empfindet..
… Das Gespräch der Damen unterbrachen zwei Fahrzeuge, die vorsichtig auf den Hof fuhren und die Statuen für den Park brachten.
- Ach, Ellen, hilf mir, mein Kind, diese herrlichen Kunstwerke mit Geschmack im Garten zu verteilen. Unser Gespräch hat mir sehr gefallen. Ich hatte gar nicht vermutet, dass du so viel weißt, kennst dich aus in Philosophie, Geschichte, Biologie .. Und es ist wahr, in unserer Zeit sollte man sich schämen, nicht Bescheid zu wissen.
- Vielen Dank für das Kompliment, Frau Elbruch, - lächelte Ellen.
- Natürlich helfe ich ihnen gern bei einer so schönen Sache. -
Die beiden Männer packten die Statuen vorsichtig aus. Ellen verfolgte ungeduldig das Auspacken und stellte fest, dass alle Gipsfiguren Vertreterinnen des weiblichen Geschlechts darstellten. Zwei Figuren stellten Kinder dar. Hier erriet sie ohne Mühe, dass die Schöpfer dieser Skulpturen natürlich ewig verliebte Männer waren, die ihren Traum begeistert in die Kunst umgesetzt hatten und wunderschöne weibliche Gestalten und Grazien geschaffen hatten - das beste auf der Welt, die göttliche Vollkommenheit der Natur !
Mit Hilfe der Vertreter der Firma und nach der Anweisung der Damen platzierten Amis und Hannes binnen einer Stunde alle Statuen. Das freute die Hausherrin. Der Garten hatte sich verändert. Er sah wie ein Palast aus, geschmückt mit Blumen und verziert mit Statuen. Jetzt konnte er durchaus mit den bekannten Kulturdenkmälern mithalten, wovon die Herrin ihr ganzes Leben träumte.
- Dieses Ereignis sollte gefeiert werden ! - rief die Herrin und klatschte wie gewohnt in die Hände. Amis und Hannes brachten ihren Lieblingswein und einen delikaten Imbiss.
- Nun brauchen wir zum vollständigen Glück Musik, - erklärte die Herrin, und sogleich erklang die Beethoven-Sonate für Waldhorn und Klavier..
Ellen begann frohgemut, den Tisch zu decken. Amis brachte wie immer Wasser für die im Garten geschnittenen Rosen. Während das Essen vorbereitet wurde, trank Frau Elbruch einen Schluck Sekt und machte es sich in ihrem Korbsessel bequem und beobachtete ringsum das Geschehen. Sie neigte sich zum Tisch und holte sich eine Salzgurke aus einem Glas, biss herzhaft hinein und fing plötzlich laut zu lachen an, als ob ihr etwas eingefallen wäre.
- Ellen, du ahnst sicher nicht einmal, wie du selbst und diese zwei Menschlein mir nahe und teuer geworden sind. -
Sie neigte sich zu Ellen, umarmte sie zärtlich mit ihrer zitternden Hand.
Das Mädchen bemerkte Tränen in den Augen ihrer Herrin.
- Was ist passiert, meine liebe Herrin ? Ist Ihnen schlecht ? - beunruhigte sich das Mädchen. - Heute ist so ein schöner Tag, aber Sie wirken verstört. Kann ich Ihnen irgendwie helfen ? - fragte Ellen und umarmte ihre Herrin..
Da erzitterten die Schultern der Gräfin und sie fing an zu schluchzen.
Bisher hatte noch nie jemand die Herrin in einem solchen Zustand gesehen. Das Mädchen wusste nicht, wie es sich verhalten sollte. Frau Elbruch ergriff die Hand ihrer gehorsamen Dienerin.
- Setz dich bitte -, begann die Herrin ihre Beichte mit zitternder Stimme.
- Ich möchte Dir etwas erzählen. Ich bin doch so allein, ich habe niemanden, außer Dir und diesen beiden prächtigen Liliputanern. -
Ellen zog ihren Sessel zu der Herrin heran, bedeckte deren Beine mit einem warmen Schal und machte sich bereit zum Zuhören. - Will sie mir wirklich die Geschichte ihres Lebens erzählen - schoss es ihr durch den Kopf. - Endlich wird sie sich von der drückenden Schwere ihres lang zurückgehaltenen Geheimnisses freimachen … -
Gerade in diesem Moment kam der Doktor hinzu. Er umfing die Herrin mit dem Blick eines erfahrenen Arztes und sagte streng: - Ich habe Ihnen keinen Tropfen Alkohol erlaubt.. Außerdem dürfen Sie sich nicht aufregen. Sie müssen auf sich achten, aber Sie haben sich schon wieder nicht an meinen Rat gehalten. -
Frau Elbruch hatte ihn so plötzlich nicht erwartet. Sie versuchte natürlich, sich zu rechtfertigen, dass sie nur einen Schluck Sekt getrunken habe. Dabei hielt sie Ellens Hand fest. Der Doktor trat näher, küsste sie auf die Stirn und fragte, ob sie heute die Tabletten genommen habe. Darauf gab die Herrin ehrlich zu, dies heute ganz vergessen zu haben.
- Ich begleite Sie zu Ihrem Bett, meine liebe Frau. Wenn Sie schon Alkohol zu sich genommen haben, dann brauchen Sie Ruhe. -
Die Herrin stand gehorsam auf und sagte: - Was würde ich in einer schweren Minute ohne meinen aufmerksamen und herzlichen Doktor tun ? Bleibt Ihr hier, meine Lieben - wandte sie sich an ihre Angestellten, - esst mit Appetit, hört Musik, aber ich muss mich hinlegen.
Die eingetretene Stille unterbrach Hannes und meinte, dass der aufmerksame
Doktor sich fürsorglich um die Gesundheit der Herrin kümmert. Aber Ellen war mit ihren Gedanken beschäftigt: Sie war betrübt, dass die Beichte der Herrin unterbrochen worden war. Ob die Gräfin wohl zu den Erinnerungen zurückkehren konnte ?
Im Garten ertönte weiter die Musik, aber Ellen hörte sie nicht.
Plötzlich rief eine Stimme drei Mal ihren Namen. Von ihren Gedanken zurückgekehrt, sah sie den lächelnden Doktor in dem Korbsessel.
- Ellen, jetzt habe ich Sie aus Ihren Gedanken gerissen. Ich bitte um Verzeihung. Ich wollte fragen: Was werden Sie trinken ? -
- Nein, nein, danke, Herr Doktor. Ich trinke ja gar nicht. Ich sitze einfach so mit Ihnen zur Gesellschaft. -
- Na, fein, - lächelte der Arzt.
- Sagen Sie, Herr Doktor, ist mit unserer Herrin alles in Ordnung ? - fragte Ellen besorgt..
- Ja, ja, es ist nichts Schlimmes. Sie darf bloß nicht trinken. Sie werden sich sicher erinnern, wie sie neulich nach einem Schluck Wein auf der Treppe fehlgetreten ist … Danach hat sie einen Monat im Bett gelegen. Außerdem muss ich sagen, dass sie depressiv wird, fängt an zu weinen und erzählt manchmal so einen Unsinn, dass mir scheint, sie wird verrückt. Darum sorge ich mich, wie auch Sie, um ihre Gesundheit und bin ihr behandelnder Arzt. -
Der ruhige Ton und die gleichmäßige Stimme unterstrichen die Wahrhaftigkeit seiner Absichten. Das angenehme Äußere, die großen blauen Augen, der wohlgeformte kleine Mund, die lockigen Haare … Diese Feinheiten hatte sie bisher nicht bemerkt, aber heute erschien er ihr besonders sympathisch.. Jetzt schämte sie sich in der Seele für die Minuten, wo er einmal die ganze Nacht an ihrem Bett gesessen hatte, und sie, statt ihm dankbar zu sein, zu ihm grob gewesen war. Jetzt bat sie ihn in Gedanken um Entschuldigung.
Nach dem zweiten Glas Wein lachten Amis, Hannes und der Doktor lustig miteinander.
- Herr Doktor, - unterbrach Ellen mit entschuldigendem Ton das Gespräch,
- darf ich für eine Minute zu der Herrin hineinschauen ? Vielleicht braucht sie
etwas. -
- Ja, ja, ich habe nichts dagegen, - lächelte ihr der Arzt zur Antwort und fügte hinzu: - Ich denke, sie schläft. -
Ellen lief nach oben und kehrte sogleich zurück. Sie bestätigte die Worte des Doktors. - Sie haben absolut recht. Sie schläft wie ein Säugling.. -
Es wurde Abend. Der Doktor verabschiedete sich von der netten Gesellschaft und wünschte allen eine gute Nacht. Ellen lächelte ihm zu, blitzte dankbar mit ihren weißen Zähnen, gab dem Doktor die Hand und ging in ihr Schlafzimmer..
Eingehüllt in eine warme Decke, ließ sie den heutigen Tag an sich vorbeiziehen: Er wäre wunderbar gewesen, wenn die Gräfin nicht krank geworden wäre. Sie erinnerte sich an die Worte des Arztes, dass mit der Herrin etwas nicht wieder gut zu machendes passieren könnte: Nach einem Schluck Alkohol wird sie depressiv, wird sie depressiv - hämmerte es ihr im Kopf.
Da wurde ihr das unverständliche Verhalten der Herrin klar, wie sie urplötzlich laut loslachte und gleich darauf wie ein Kind zu weinen begann. Oder wie sie zärtlich sein konnte, wie die eigene Mutter, und gleich darauf so böse und scharf, dass man nicht wusste, wie man sich verhalten sollte.
Der Wein also bringt sie aus dem Gleichgewicht. Aber irgend etwas in ihr gibt ihr und ihrer Umgebung keine Ruhe.
- Vielleicht wollte sie mir an dem Tag etwas anvertrauen… Und wenn sie aber nur ein weiteres Mal die Dumme spielen wollte, um etwas zu verschleiern und gleichzeitig Mitgefühl hervorzurufen ? … Da stimmt etwas nicht. Bloß gut, dass der Doktor den Grund für ihr Verhalten bestimmen konnte. -
Ein starkes Klopfen an der Tür vertrieb ihre Gedanken. Sie erzitterte vor Überraschung. Weil sie dachte, dass es Amis war, stand sie jedoch aus dem Bett auf und ging auf Zehenspitzen zur Tür und lauschte. Es herrschte vollkommene Stille.
Sie wartete, ob es wohl noch einmal klopfen würde. Nein, alles blieb ruhig.
- Was ist das, noch ein Rätsel ? - Ihre Neugier war geweckt. Sie öffnete leise die Tür ihres Schlafzimmers, aber im dunklen Korridor war niemand. Nur die weinroten Vorhänge bewegten sich leise, als wenn sich hinter ihnen jemand verbarg.
Plötzlich bemerkte Ellen, dass ihr hinter der Gardine jemand zuwinkte.
Erschrocken lief Ellen in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür ab und kuschelte sich in ihre Decke ein. Lange rätselte sie: Wer konnte das dort sein. Sie wusste genau, dass es nicht Amis war. Der war ja klein, und derjenige, der ihr hinter der Gardine zugewinkt hatte, war von normalem Wuchs. Sie schaltete die Nachtlampe an, nahm ein Schlafmittel und … schlief ein.
Zum Frühstück kam Ellen rechtzeitig herunter. Am Tisch waren schon alle versammelt.
- Guten Morgen, meine Herrin, - sagte Ellen freundlich und küsste die Herrin auf die Stirn.
Die Gräfin nickte ihr freundlich zu: - Wie hast du geschlafen, mein Mädchen, -
fragte die Gräfin.
- Danke, sehr gut, - antwortete Ellen und merkte, dass Amis nervös war.
Er ließ eine Gabel unter den Tisch fallen und bückte sich danach. Dabei warf er ein Zettelchen an Ellens Füße. Das Mädchen hob es auf und versuchte, seine Erregung zu unterdrücken.
- Ellen, du wolltest mir noch etwas sagen, - zog die Herrin fragend die Augenbrauen hoch..
- Was meinen Sie ? -
- Bei dir hat nach 12 Uhr nachts Licht gebrannt. Was hatte das zu bedeuten ? -
- Ja, Herrin, ich habe lange mit einem Buch gesessen. -
- Ich verstehe, aber ich sehe diese Ermahnung als die letzte an. Mehr werde ich zu dem Thema nicht sagen. -
Ellen wurde rot und spürte, dass nach der letzten Ermahnung eine Strafe der mächtigen Gräfin zu erwarten war. - Will sie mich wirklich hinauswerfen ? -
Aber sie beruhigte sich gleich und dachte an die Worte des Doktors, dass Frau Elbruch manchmal depressiv würde. Die Stimmung war ihr jedoch verdorben.
Auch der Appetit war weg. Sie trank eine Tasse Tee und ging dann mit der Erlaubnis der Herrin in ihr Schlafzimmer. Hier ließ sie zum ersten Mal ihren Gefühlen freien Lauf: Sie schluchzte so, dass das ganze Haus zu erzittern schien.
In dem Moment kam die Herrin in das Schlafzimmer.
- Ellen, sei mir nicht böse, - sagte die Herrin und umarmte Ellen. - Vielleicht war ich ungerecht zu Dir. Aber Du bis für mich wie eine Tochter, und ich verspreche, dass ich Dich nicht mehr kränken werde. Und jetzt möchte ich sehr, dass Du in den Salon hinunter kommst. Wir müssen etwas besprechen. -
Ellen trocknete ihre Tränen und beruhigte sich. Aber eine Frage ließ ihr keine Ruhe: Wer konnte der Herrin gesagt haben, dass bei mir die Nachtlampe brannte ?
Wer war der nächtliche Unsichtbare, der mich herauslocken wollte ?
Davon wollte sie der Herrin natürlich nichts erzählen. - Weiß Gott, vielleicht war die Herrin selbst der versteckte Gast ? -
In den Salon zurückgekehrt, setzte sich die Herrin in ihren Lieblingssessel und begann: - Ellen, ich habe für Dich eine Überraschung. -
Das Mädchen schwieg in Erwartung.
- An diesem Sonnabend ist Dein Geburtstag. Du wirst fünfundzwanzig, meine Liebe ! -
Die Augen des Mädchen wurden vor Freude feucht.
- Ich bin Ihnen sehr dankbar, meine liebe Herrin. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, dass mein Geburtstag gefeiert wurde. Meine Mutter konnte sich das gar nicht leisten.. Wir waren immer so arm, - erzählte das Mädchen und biss sich auf die Lippen, um nicht loszuweinen.
- Aber jetzt lebst Du mit uns. Wir alle - und sie umfasste alle Anwesenden mit einer Handbewegung - sind eine Familie. Und keiner von uns wird Deinen Geburtstag vergessen. An diesem Sonnabend werde ich für Dich ein Bankett für fünfzig Personen ausrichten. Es kommen bekannte, verehrte Gäste. Das wird ein grandioser Festtag, - schloss die Herrin.
Ellen hatte es vor Erstaunen die Sprache verschlagen. Sie fiel vor der Gräfin auf die Knie. Die Herrin hob das erregte Mädchen jedoch auf und erlaubte ihr nicht, zu ihren Füßen zu fallen.
- Mach das nicht, Du bist doch keine Sklavin. Benimm dich ordentlich. Niemand wird dich beleidigen. Aber jetzt beunruhigt mich, ob du ein Abendkleid hast, in dem Du ohne Dich zu schämen vor den Gästen erscheinen kannst ? -
Mütterlich zärtlich fügte sie hinzu: - Ich gebe Dir heute einen freien Tag.
Nimm Geld aus der Schatulle, setz dich ins Auto und kauf Dir alles Notwendige für das Bankett. Und noch etwas, Ellen: An dem Abend werde ich Dich als meine Nichte vorstellen. Und betrag dich wie eine Familienangehörige: Für mich gehörst Du zur Familie. -
Ellen schaute ihre Herrin wie gebannt an. In ihrem Kopf schwirrten jedoch die Worte des Doktors: - Manchmal passiert mit unserer Herrin etwas Unwahrscheinliches.. - Aber das Mädchen verjagte energisch die anströmenden Gedanken und dankte der Herrin mit Tränen für ihre Güte.
Sie nahm Geld und die Autoschlüssel und ging aus dem Zimmer. Schon in der Tür fragte sie Amis, was sie ihm aus der Stadt mitbringen solle. Aber er antwortete mit einem Lächeln: - Komm recht bald selbst zurück, bleib gesund und lustig. Ohne Dich ist es uns langweilig. -
Die Tür schlug zu. Frau Elbruch ging die Treppe hoch in ihr Schlafzimmer und bat sie nicht zu stören. Die Liliputaner kannten ohnehin ihren Tagesablauf und brauchten keine diesbezüglichen Hinweise. Sie gingen in den Garten. Dort wartete viel Arbeit auf sie.
- Amis, ich muss dir sagen, dass die Herrin den Zettel bemerkt hat, den du Ellen zugeworfen hast. -
- Ach, wirklich ..? -
- Ja, ja, Amis, sie hat es bemerkt, aber sich nichts anmerken lassen.
Deine Nervosität am Tisch hat Dich verraten. -
- Was soll ich jetzt tun .. - überlegte Amis.
- Gar nichts, aber sei in Zukunft vorsichtiger. Übrigens, was stand denn auf dem Zettel ? Hoffentlich nichts über unsere Gräfin .. -
- Darüber kann ich dir nichts sagen. -
- Du hast also vor mir Geheimnisse ? - Hannes war gekränkt.
- Vor Dir habe ich keine Geheimnisse. Es betrifft nur mich und Ellen. -
In diesem Moment ertönte aus dem offenen Fenster die Stimme der Herrin.
- Amis ! - rief sie. - Du hast wieder vergessen, mir eine Karaffe frischen Saft hinzustellen ! Der Doktor wird gleich kommen, und ich habe noch keine Tablette genommen. ..-
- Ich komme schon, Herrin ! - rief Amis und lief los. - Ich hatte es ganz vergessen, verzeihen Sie mir bitte ! -
So war das Gespräch der beiden kleinen Brüder unterbrochen worden. Hannes hörte, wie die Herrin noch lange auf Amis schimpfte. - Heute wirst Du bestraft werden, damit Du ein ander Mal Deine Pflichten nicht vergisst. - schrie sie ihn an. Hannes beugte sich über die Rosensträucher und tat, als sei er sehr beschäftigt, um dem Zorn der Herrin zu entgehen. Sein Bruder tat ihm sehr leid. Denn er, Hannes, war es gewesen, der Amis mit seinem Geschwätz von seinen Pflichten abgehalten hatte.
Deswegen hatte Amis die Herrin vergessen. Er wusste, dass die Herrin das nicht nur so gesagt hatte: Wenn sie eine Strafe in Aussicht gestellt hatte, dann wird sie das trotz aller Zuneigung zu den Gärtnern auch wahr machen.
Hannes erwartete seinen Bruder vergeblich zurück. Amis kam nicht in den Garten zurück, es war, als hätte ihn die Erde verschluckt. - Vielleicht hat sie ihn sich wegen des ominösen Zettels vorgenommen ? -
Da kam der Doktor in den Hof, reichte Hannes die Hand und ging zu der Herrin. Es wunderte den Liliput, dass sie schon nach zwei Minuten so laut herauslachte, als sei davor nichts Besonderes vorgefallen. - Der Doktor hatte recht, dass mit der Herrin manchmal unwahrscheinliche Dinge passieren. Früher haben wir das an ihr nicht bemerkt.. Wie kann ich bloß herausbekommen, wofür und wie mein Bruder bestraft wurde.. -
In seine Gedanken hinein fuhr der Mercedes auf den Hof.
- Hallo, Hannes - rief Ellen erfreut. - Ich habe Euch etwas mitgebracht.
Hilf mir bitte auspacken. Wo ist Amis ? -
- Ich denke, unser Amis ist bestraft worden. -
- Wie bestraft ? Wofür ?.. -
- Er hat vergessen, der Herrin eine Karaffe frischen Saft auf den Tisch zu stellen, - brummelte Hannes.
- Und für so eine Kleinigkeit sollte er bestraft werden ? - wunderte sich Ellen..
- Aus dem offenen Fenster ihres Schlafzimmers hat sie gerufen und geschimpft und wollte ihn bestrafen, damit er seine Pflichten nicht vernachlässigt.
Und sie konnte ihre Tabletten wegen des fehlenden Safts nicht nehmen, wo doch der Doktor gleich kommen sollte.
- Und was ist es nun für eine Strafe ? -
- Wenn ich das wüsste .. !
- Wen sehe ich ! - ertönte plötzlich die Stimme der Herrin aus dem geöffneten Schlafzimmerfenster. - Komm herein und erfreue mich: Was hast du eingekauft, was hast du vergessen ..-
Ellen lächelte ihr freundlich entgegen: - Alles habe ich gekauft, nichts habe ich vergessen. Und auch für meine lieben kleinen Brüder habe ich etwas mitgebracht.
Aber den einen sehe ich hier nicht - plauderte Ellen weiter.
- Wen siehst Du hier nicht ? - fragte die Herrin.
- Amis natürlich.. -
- Im Nu war das Lächeln vom Gesicht der Herrin weggeweht.
- Ich meine, ich habe ihn gerecht behandelt. Lass uns aber das Thema vergessen. Komm, zeig Deine Einkäufe ! - lächelte die Herrin säuerlich.
- Ich brenne vor Ungeduld, alles möglichst bald zu sehen ! -
Ellen versuchte, den Zorn der Herrin durch einen Scherz zu zerstreuen. Aber diese blieb unbeugsam, fest wie eine Wand. Da fiel dem Mädchen plötzlich ein, dass sie noch selbst vor der Abfahrt in die Stadt eine Karaffe mit frischem Saft auf das Tischchen gestellt hatte. Das wusste sie genau.
- Herrin, - begann Ellen voller Schwung, - Ich habe doch heute vor meiner Abfahrt selbst noch die Karaffe mit Ihrem Lieblingssaft zu Ihnen hereingestellt.. -
- Ich brauche keinen Verteidiger für Amis, und verkaufe mich nicht für dumm, das erlaube ich niemandem. Hast Du mich verstanden, Ellen ? -
Das Mädchen erschrak, ihr fielen die herrischen Anfälle der Gräfin ein und sie beschloss, ihre Geduld nicht weiter auf die Probe zu stellen. Mit einem Lächeln umarmte sie die Herrin.
- Das ist schon besser, Ellen. Zeig mir, was Du gekauft hast. Und was du vielleicht vergessen hast … -
Hannes half, die Schachteln auszupacken. Es waren so viele !
- Ellen, nun probier mal dieses hübsche Chiffon-Kleid an. In diesem Kleid möchte ich Dich an diesem Abend als Prinzessin sehen. -
- Oh, das zarte Rosa passt sehr gut zu Dir. Ich sehe, Du hast einen wunderbaren Geschmack.. Du hättest ein großartiger Designer werden können. -
Die Herrin umarmte Ellen und küsste sie auf die Stirn.. Sie wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment klingelte das Telefon und die Gräfin hob den Hörer.
- Ja, ja, das Bankett am Sonnabend, um siebzehn Uhr. Nein, Sie haben sich nicht geirrt.. Ich bin es, Frau Elbruch, Ihr Nervtöter und schwierige Kundin, ich lade Sie persönlich zu dem Bankett ein. Ja, dann sehen wir uns auf dem Bankett.. -
- Ach, Ellen, - lachte die Herrin und legte den Hörer auf. - Das war Herr Schmidt, Du wirst Dich an ihn erinnern. Er hat sich gewundert, dass ich ihn einlade. Wir haben etwas miteinander zu bekakeln, - und wieder lachte sie auf.
- Unsere Herrin ist für uns alle ein vollständiges Rätsel und wirklich originell.
Aber wo ist jetzt unser Amis, was ist mit ihm und wofür wurde er überhaupt
bestraft ?… - Plötzlich erinnerte sich das Mädchen an den in der Schürzentasche vergessenen Zettel von Amis und wollte sogleich ins Schlafzimmer gehen, um das neue Kleid anzuprobieren und natürlich den Zettel zu lesen..
Sonderbar, der Zettel war aus der Schürzentasche verschwunden. Auch unter dem Kissen war er nicht. Ellen erinnerte sich gut, dass sie ihn nicht aus der Tasche herausgenommen hatte.
- Ellen, Du brauchst so lange zum Umziehen, dass man sich inzwischen ausschlafen kann, - hörte sie die Stimme der Herrin.
- Ich bin gleich fertig. In zehn Minuten komme ich hinunter in den Salon, - antwortete Ellen mit vor Angst zitternder Stimme.
- Hannes, Du hast von Damengarderobe sowieso keine Ahnung, geh besser und mache uns das Abendessen. Heute wird der Doktor mit uns essen. Tu lieber etwas Nützliches, sonst bekommst Du es auch noch mit mir zu tun… -
Der Liliputaner wollte gerade in die Küche gehen, als die nicht wieder zu erkennende Ellen majestätisch die Treppe herunter schritt. Sie ähnelte der Prinzessin aus dem bekannten Märchen “Aschenbrödel”.
- Oh, wie schön bist Du ! - stammelte Hannes begeistert.
Die Gräfin schaute ihre neue Nichte lange schweigend voller Bewunderung an.
- Liebe Ellen -, brach es aus ihr heraus. - Du hast Dich in eine kleine Prinzessin verwandelt.. Ich hab Dich ja so lieb. Der Herrgott selbst hat Dich zu mir geschickt, um meine Einsamkeit zu verschönen. -
In ihrer Begeisterung über das Kleid bemerkten sie nicht, dass der von allen geschätzte Arzt eingetreten war.
- Großer Gott ! Ich befürchte, dass alle zum Bankett eingeladenen Männer Ihnen zu Füßen fallen werden. Doch seien Sie vernünftig, zeigen Sie, dass Sie wohlerzogen sind und verlieren Sie nicht den Kopf -, sagte der Arzt zu Ellen mit einem freundlichen Lächeln und machte es sich auf dem Sofa bequem.
Es war angenehm, Komplimente von solchen Leuten wie dem Doktor und der Gräfin zu hören. Ellen schätzte den Doktor sehr, und die Gräfin liebte sie.
Manchmal jedoch hatte sie beiden gegenüber irgendwelche gemischten Gefühle..
- Meine Herrin, ich würde gern duschen und dann zum Abendessen herunterkommen. -
- Ja, ja, meine Liebe. Das Abendessen wird in fünfzehn Minuten fertig sein.
Bitte komm ohne Verspätung. -
Nachdem sie geduscht hatte, zog sich Ellen an, färbte sich leicht die Wimpern, trug einen tönenden Creme auf das Gesicht auf und benutzte einen rosa Lippenstift..
Sie erwischte sich bei dem Gedanken, dass sie dem Doktor gefallen wollte, der zum Abendessen geblieben war. Als sie in den Salon hinunterging, waren schon alle außer Amis am Tisch versammelt. Sie wollte während des Essens an ihn erinnern, aber es war zu gefährlich, das verbotene Thema zu berühren.
Hannes brachte zuvorkommend, wie in einem erstklassigen Restaurant,
jedem das Gericht - gebratene Ente mit Kartoffeln und grünem Salat.
Auf dem Tisch stand eine schon geöffnete Flasche eines teuren Markenweins, den Ellen jedoch nicht einmal berührte. Der Doktor gestattete der Herrin einen Schluck Wein, weil abends keine Tabletten mehr einzunehmen waren.
Ein rechtes Gespräch kam während des Abendessens nicht zustande: Jeder war
mit seinen Gedanken beschäftigt. Ellen sorgte sich um Amis und rätselte wegen des verschwundenen Zettels. Hannes aß auch fast nichts, er klagte über Bauchschmerzen.
Die Herrin und der Doktor aber schwatzten fröhlich und lachten.
Die Gräfin war vom Wein und der Erregung sogar rosa angehaucht. Das betrübte das Mädchen und den Liliputaner. Aber sie mussten sich zusammennehmen.
Heute war in Ellen zum ersten Mal eine Sympathie gegenüber Hannes erwacht, den sie vordem nicht recht gemocht hatte. Gemeinsamer Kummer bringt offenbar die Menschen einander näher.
- Ach ja, Hannes, - fuhr plötzlich die Herrin hoch - nimm meinen Teller, belege ihn mit allem, was noch da ist und bring ihn Deinem Bruder in das Zimmer 137. Und dass es nicht länger als fünf Minuten dauert. Du sollst gleich hierher zurückkommen. Hast Du verstanden ? Fünf Minuten ! - wiederholte sie streng und warf ein großes Schlüsselbund auf den Tisch.
- Vielleicht gehe ich mit ihm mit ? - fragte Ellen zaudernd.
- Nein, es lohnt sich nicht, mein liebes Mädchen. Er braucht keine Hilfe. -
Das Mädchen fühlte sich zurückgewiesen. In diesem Moment hegte sie Gefühle wie Kränkung und sogar Hass gegenüber der Herrin, die sie doch so liebte.
Vor ihren Augen schimmerte das Schlüsselbund mit den dreistelligen Zahlen.
- Sind wirklich alle diese Räume hier unter der Erde ? - Die Fragen entzündeten das Interesse und gingen über in Neugier, die Handlungen verlangte..
Hannes kam wirklich nach fünf Minuten zurück. Er sagte, dass Amis großen Durst habe und fragte, ob er ihm irgendein Getränk bringen dürfe. Aber die Herrin antwortete grob: - Heute nicht ! Er soll wissen, dass ich meine Worte und Versprechen halte .. -
In dieser Nacht konnte Ellen lange nicht einschlafen: Es erhoben sich Fragen, Verdachtsmomente, Vermutungen. Das Zimmer Nr. 137 ging ihr nicht aus dem Kopf.
Eines war klar: Amis war eingesperrt worden und ertrug eine ungerechte Strafe.
- Wie kann man ihn nur aus der Falle rausholen ? -
In den drei Jahren der gemeinsamen Arbeit im Hause der Gräfin hatte sich Ellen nie danach erkundigt, wie die Brüder leben und wo sie schlafen. Jetzt schämte sie sich dafür, dass die Brüder alles über sie wussten, und sie wusste nichts über sie.
Es war halb elf - noch anderthalb Stunden bis Mitternacht. Sie nahm sich vor, sich einen logischen Grund auszudenken, um von der Herrin zu erfahren, wo sich das Schlafzimmer der Liliputaner befand. Aber ihr fiel nichts ein, und die Zeit lief weiter.
Ellen stand auf, verschloss leise ihr Zimmer und ging lautlos zu der Herrin, wohl wissend, dass diese zu der Zeit noch nicht schlief. Sie blätterte in Zeitschriften oder strickte. Aber im Schlafzimmer der Herrin war es dunkel und leer. Das Mädchen fürchtete sich.
Da entstand in ihrem Kopf plötzlich ein Plan: Hinunterzugehen in den Keller, wie schon vorher. Bloß gut, dass in dieser Nacht der Mond hell schien. So brauchte man keine Kerze. Fast lautlos ging sie in den Keller und bemerkte dort sofort einen Schatten, der sich hinter einer Säule verbarg. Zitternd vor Überraschung hörte sie deutlich die Stimme des kleinen Hannes.
- Hab keine Angst, Ellen. Komm her zu mir. Ich bin auch gerade erst herunter gekommen, um Amis eine Flasche Saft zu bringen. Aber ich weiß noch nicht, wie das zu machen ist.
- Hannes, die Herrin ist nicht in ihrem Schlafzimmer. Dort ist es dunkel und es ist niemand da. -
In diesem Moment hörten sie einen herzzerreißenden Schrei von Amis.
Sein Bruder wusste schon, wo sich das Zimmer für den Bestraften befand. Sie gingen zu dem Zimmer Nr. 137 und hofften, mit dem Opfer des Despotismus sprechen zu können. Als sie jedoch näher zur Tür kamen, hörten sie ein lautes Zischen. Dann wiederholte sich der Schrei und alles wurde still. Ellen verlor das Bewusstsein. Sie war in eine Ohnmacht gefallen…
Hannes wusste vor Schreck nicht, was er machen sollte: Ellen auf dem Boden liegen lassen ging nicht, aber hochheben konnte er sie auch nicht. Er beschloss, kaltes Wasser zu holen, damit sie wieder zu sich kam.
Der Mond, der ins Kellerfenster leuchtete, wurde sein getreuer Verbündeter, damit die arme Waise nicht zwischen den Säulen umher zu irren brauchte.
Als er zu dem Mädchen zurückgekehrt war, goss er ihm einen Strahl kalten Wassers ins Gesicht.
- Ach .. -
- Still, Ellen .. -
- Was ist mit mir, Hannes ? -
- W-wir m-müssen sch-schnell von hier w-weglaufen, ehe uns die Herrin findet, - stotterte der Liliputaner. Aber es war wohl schon zu spät. Es war zu hören, wie jemand vorsichtig die Treppe nach unten kam und den Weg mit einer Kerze beleuchtete.
Hannes zog Ellen am Arm, und sie tauchten in das nächstliegende halbfeuchte, dunkle Zimmer. Er schloss es rasch und lautlos zu. In der Nähe der Tür, hinter der die ungehorsamen Wahrheitssucher wie gebannt standen, sprach die Herrin mit lauter Stimme: - Hannes, ich mache meinen abendlichen Rundgang ! Schläfst Du schon ? -
- Ja, Herrin, ich schlafe schon, - antwortete der Liliputaner ohne Zögern.
Als die Schritte hinter der Tür verklungen waren, atmete Ellen erleichtert auf und fragte: - Wo sind wir hier ? Ist das hier ein Zimmer oder .. ? -
- Hab keine Angst, Schwesterchen. Das ist unser Schlafzimmer, für Amis und mich.. Entschuldige, ich konnte Dir kein würdigeres Versteck anbieten. -
- Hannes, mach doch bitte Licht an. Ich möchte mir Eure ärmliche Unterkunft ansehen. -
- Warte noch ein bisschen, bis alles still ist. Die Herrin darf nicht wissen, dass Du hier bist. Das ist gefährlich. Mit ihr ist nicht zu spaßen.-
Bald wurde alles still, und Hannes machte die Nachtlampe an. Nun sah Ellen zum ersten Mal das “gemütliche Nest“ der Gärtner. An der zwei Meter hohen Wand war ein Doppelstockbett für Kinder angeschraubt. Zwei kleine Hocker fanden in einer Nische kaum Platz. Und eine alte schmutzige Gardine verdeckte eine Öffnung, die man nicht gut als Fenster bezeichnen konnte: Es war eine in die Wand geschlagene Vertiefung, die den rechtlosen Sklaven kein Tageslicht bescherte.
Ellen beguckte sich mit weit geöffnetem Mund dieses “Nest” und machte ihrem Herzen Luft: - Mein Gott, welche Heuchelei ! Da hat sie schutzlose Menschen aus ihrer maßlosen Liebe zu ihren unersetzlichen Arbeitern in so einen Kälberstall gesperrt ? ! -
Das Mädchen umarmte Hannes und merkte, das er weinte.
- Mein Lieber, morgen werde ich gleich mit dem Doktor sprechen. So kann das nicht weitergehen.. Unsere Herrin wird wirklich vor lauter unbeschreiblicher Liebe zu Euch verrückt. -
- Für mich, Ellen, ist das nicht so wichtig, wo und wie ich lebe. Mich beunruhigt das Schicksal meines Bruders. Was ist in diesem verfluchten Zimmer vor sich gegangen, was waren das für unverständliche Laute, so ein drohendes Zischen und die Schreie ? Ich befürchte, dass mit ihm etwas Schreckliches passiert ist.
- Gleich morgen spreche ich über alles mit dem Doktor. Meine Geduld ist nun zu Ende.. Jetzt aber leg Dich schlafen, komm wieder zu Kräften Wir werden uns noch gedulden, wie man sagt, der Morgen ist klüger als der Abend. -
Sie küsste Hannes auf die Stirn und verschwand in der Dunkelheit. Lautlos kam sie zu ihrem Schlafzimmer. Sie konnte jedoch lange nicht einschlafen.
Sie plante, Amis zu befreien. Wenn er noch am Leben war. Und wenn ..
- Mein Gott, wenn es bloß bald Morgen wäre -, betete sie und fing an, bitterlich in ihre Decke zu weinen.
Am frühen Morgen trieb eine zärtliche Sonne sie aus dem Bett. Im Spiegel erblickte sie ein enttäuschendes Äußeres: Ein müdes Aussehen, stumpfe Augen..
Aber die Herrin durfte davon nichts merken.
Ellen ging eine halbe Stunde früher als gewöhnlich die Treppe hinunter in das Speisezimmer. Dort duftete es schon appetitlich nach einer großen Schüssel Rührei.
Teekanne und Kaffeekanne warteten auf ihre Herren.
- Heute siehst Du aber angegriffen aus. Komm, lass uns frühstücken. Und dann möchte ich mit Dir etwas besprechen…
In diesem Moment betrat der Doktor das Zimmer.
- Ach, Herr Doktor, kommen Sie herein und frühstücken Sie mit uns ! - begrüßte ihn Ellen lebhaft und lächelte ihm freundlich zu..
- Gibt es einen Grund für Ihr unerwartetes Erscheinen in unserem Haus, sehr geehrter Herr Doktor ? - beunruhigte sich die Herrin und lächelte dem frühen Gast säuerlich zu.
- Ich habe mich daran erinnert, dass gestern Abend Amis bestraft wurde. Ich wollte mal schauen, wie es ihm geht, - antwortete der Doktor, jedes Wort deutlich akzentuierend.. - Ich meine, eine Strafe sollte nicht so lange dauern, und noch dazu ohne Wasser.. Letzten Endes kann das nicht nur zu einem Mangel an Wasser führen, sondern auch an Luft. -
Ellen wäre vor Freude fast aufgesprungen ! Der Doktor war ihr zuvor gekommen, sie wollte mit ihm auch über das Schicksal der rechtlosen Liliputaner sprechen.. In ihren Gedanken dankte sie Gott dafür.
- Ach so ist das ! - die Gräfin war vor Wut fast aufgesprungen. - Seit wann gibt es in unserem Haus Verteidiger meiner Arbeiter ? Herr Doktor, vergessen Sie nicht, dass ich hier immer noch die Herrin bin. Bitte mischen sie sich nicht in meine Angelegenheiten. Ich hoffe, Sie haben mich richtig verstanden …
Der Doktor schwieg. Er hatte eine solch rücksichtslose Antwort und solche Grausamkeit gegenüber den Arbeitern nicht erwartet.
- Entschuldigen Sie, Frau Elbruch. Aber ich bin Arzt. Ich trage die direkte Verantwortung vor dem Gesetz und vor meinem Gewissen für jeden Menschen, der sich unter diesem Dach befindet. -
Er stand auf, ohne das Frühstück berührt zu haben.
- Und jetzt, meine verehrte liebe Frau: Bitte geben Sie mir die Schlüssel.
Ich muss unbedingt Amis aufsuchen. -
Ellen bekam vor Glück glänzende Augen, ihr Herz klopfte vor Freude.
Gleichzeitig hatte sie vor irgend etwas Angst. Gestern waren Hannes und sie doch Zeuge eines schrecklichen Albtraums gewesen.
Das Gesicht der Herrin verzog sich nervös, mit zitternder Hand griff sie in die Tasche ihres Morgenmantels, wo sich die Schlüssel befanden…
- Zimmer 137, bitte schön, - und sie schleuderte das schwere Bund auf den Tisch, in dem Bewusstsein verloren zu haben.
- Ich spiele hier nicht den Verteidiger. Ich bin nur Arzt, - sagte der Doktor, nahm die Schlüssel, und der ungebetene Gast entfernte sich.
- Die Ärzte sind alle gleich: Sie denken in Schablonen. Und dieser auch -, rief ihm die Herrin nach, ohne ihren aufsteigenden Zorn zu verbergen. Aber er hörte sie schon nicht mehr. Ellen und Hannes saßen wie festgenagelt.
Es herrschte eine bedrückende Stille, die alsbald der zurückkehrende Arzt unterbracht.. Auf seinen Armen trug er den leblosen Körper von Amis.
- Was ist mit ihm ? - schrie Ellen auf. - Er ist gestorben … -
- Setzen Sie sich bitte hin und beruhigen Sie sich, - sagte der Doktor und schaute die Gräfin mit stumpfem Blick an. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Angst breitete sich im Salon aus.
- Meine liebe Frau, - sagte der Arzt erregt, - es ist Ihr Glück, dass Amis im Koma liegt. -
- Herr Doktor, wird er wieder zu sich kommen ? - atmete Ellen tief auf.
- Das wünsche ich mir auch. -
Der Doktor legte Amis sorgsam auf ein Sofa. Er warf das Schlüsselbund auf den Tisch und schaute die Herrin wütend an. - Amis wurde von einer Schlange gebissen.. Glücklicherweise war ihr Gift nicht tödlich. Aber warum er ins Koma gefallen ist, muss ich noch herausfinden. -
Er setzte sich gegenüber der Herrin auf einen Stuhl und sprach:
- Den Schlüssel vom Zimmer 137 behalte ich bei mir. Wir wissen nicht, was mit Amis weiter passieren kann. - Der Arzt drehte sich zu Hannes um und fragte ihn, ob er gestern etwas Verdächtiges gehört habe.
- Ja, ich habe etwas gehört -, beeilte sich Hannes zu antworten. - Ich wollte mich gerade schlafen legen, als ich den furchtsamen Schrei meines Bruders hörte. Ich wollte ihm zu Hilfe eilen. Aber wir dürfen nach Mitternacht nicht mehr aus dem Zimmer gehen. - Er schaute verängstigt auf die Herrin und fügte hinzu: - Ich konnte nicht hinausgehen und sehen, was mit meinem Bruder ist. -
Der Arzt wandte sich zu der Herrin und sagte streng: - Wenn diese beiden Liliputaner morgen nicht eine normale Unterkunft erhalten, ich meine ein Schlafzimmer, so werde ich gezwungen sein, die Polizei einzuschalten.
Vor Dankbarkeit fiel Ellen dem Doktor zu Füßen. Er hob sie sogleich auf und
sagte, dass er seine Pflicht erfülle.
- Es tut mir sehr leid, dass sich alles so traurig ergeben hat, - begann die Herrin sich zu rechtfertigen. - An völlig unvorhersehbare Folgen hatte ich nicht gedacht..
Doktor, Sie müssen mir alten dummen Frau verzeihen. -
Sie drehte sich zu Ellen und gab Anweisung: - Geh mit Hannes in die obere Etage und wählt nach Eurem Geschmack ein Zimmer für Amis und Hannes aus.
Fahrt heute noch mit dem Auto in die Stadt und kauft die notwendigen Möbel.
Ein Scheck über zehn tausend Dollar liegt in meiner Kommode. Mir schwirrt der Kopf.. -
- Das ist ganz natürlich, - wandte sich der Doktor ihr zu. - Eine verspätete Reaktion auf die Erschütterung. Ich werde Ihnen …-
- Nein, nein, heute brauche ich nichts mehr. Ich lege mich einfach etwas hin. -
Der mitfühlende Arzt wurde vor Überraschung rot. Er nahm sich jedoch zusammen und zeigte sich einverstanden. Ellen half der Herrin aufzustehen, die dann langsam in ihr Schlafzimmer ging und die Tür hinter sich ungewöhnlich laut zuwarf.
- Ellen, wir müssen uns beeilen. Am Himmel sind dunkle Wolken. Bald kommt eine Gewitter. Lass uns in die Stadt fahren, - drängte Hannes.
Das Mädchen nahm die Autoschlüssel. Sie setzten sich im Wagen zurecht und beide fuhren los.
- Heute kommt noch ein starker Regen, - wiederholte Hannes seine Prognose.
- Das sind unsere Tränen. Die Natur weint mit uns. Das bedeutet, Amis wird leben. -
Gerade hatte er zu Ende gesprochen, als sich hinter der Windschutzscheibe ein solcher Regenguss mit starkem Wind entwickelte, dass sie langsamer fahren mussten.
Dann hörte der Regen genau so rasch wieder auf, wie er gekommen war. Die Sonne schaute heraus, und die Reisenden beruhigten sich. Beide waren der Meinung, dass das Unglück, das auf ihre Schultern gefallen war, genau so wie die Naturerscheinung von einem Erfolg abgelöst würde: Amis würde leben.
Hinter dem Mercedes fuhren zwei große Transporter voller Möbel in den Hof ein. Die Monteure packten die Möbel schnell und fachgerecht aus, bauten sie zusammen und stellten sie in dem großen hellen Schlafzimmer auf, das die Liliputaner nun bekommen hatten. Ellen hatte auch nicht vergessen, helle Fenstergardinen zu kaufen. Auf dem Fußboden wurden Teppichläufer ausgelegt. Polierte Hocker fanden ihren Platz neben den Betten. Buntes geschmackvolles Bettzeug machte das Zimmer gemütlich.
- Ellen, ich hole einen Kristallkrug mit Wasser für die Blumen, - freute sich Hannes über die Veränderungen. - Fein, das ist jetzt genau das Richtige.. -
Die Vasen mit den Rosen auf den Nachttischen erfüllten das Zimmer mit einem belebenden Duft.
- Wie bin ich für Euch froh, meine lieben Brüder, dass das Eis in Gang gekommen ist und Ihr so einen zauberhaften Wohnraum bekommen habt ! Das soll Euer Lohn sein für alle Eure Leiden. Gott hat Euer Gebet erhört und Euch den Doktor zu Hilfe geschickt. Komm, wir wollen uns bei ihm für die Fürsprache bedanken.-
Sie gingen in den Salon, aber dort war niemand. Auch im Hof und im Garten war vollkommene Stille.
Ellen wollte schon nach oben zur Herrin gehen, als sie plötzlich ein Gespräch hörte:
- Da hat sich Ihr Gewissen geregt. -
- Danke, Doktor. Endlich bin ich wieder bei mir.., - antwortete die Gräfin mit ruhiger Stimme. Sie ging hinunter in den Salon und lächelte, als sie Ellen erblickte und fragte, ob alle Möbel zur Zufriedenheit aufgestellt seien..
- Ja, Herrin, wir sind gerade erst fertig geworden und wollten Sie eben im Garten suchen.. - Die Herrin ging nach oben, um das neue Zimmer der Liliputaner anzuschauen und rief freudig aus: - Hier ist ja jetzt alles, wie in den besten Häusern in Paris ! Ellen, ich hatte nicht gezweifelt, dass Du in allem einen ausgezeichneten Geschmack hast. Ich bin froh und glücklich. -
- Vielen Dank für das Vertrauen und die Einschätzung, - lächelte das Mädchen.
- Herr Doktor, jetzt brauche ich Sie nicht mehr, sagte die Herrin und warf den Kopf stolz nach hinten. - Und vielen Dank, dass Sie Amis ins Krankenhaus geschickt haben. -
- Auf Wiedersehen, gnädige Frau, - brummelte der Doktor und ging zum Ausgang. Schon in der Tür fügte er hinzu: - Mit gegenseitigen Beschuldigungen erreichen wir nichts. Wir müssen mit den Tatsachen rechnen. -
Aus diesen Bruchstücken ihres Gesprächs war nicht zu verstehen, worüber sie gestritten hatten. Eines war beruhigend: Amis war im Krankenhaus. Das nährte die Hoffnung auf ein gutes Ende.
Der Tag neigte sich zum Abend. Der letzte Sonnenstrahl verschwand hinter dem Horizont.
- Hör mal, Ellen, - begann die Herrin. - Heute geht es mir nicht so gut, aber ich möchte doch gern eine Zeit auswählen, um die Einzelheiten für das Bankett am Sonnabend besprechen. -
- Sie haben recht, meine liebe Herrin. Der Morgen ist klüger als der Abend, - sagte Ellen, küsste die Herrin auf die Wange und ging in ihr Zimmer.
Freudige Gefühle erfüllten das Herz des Mädchens ob der glücklichen Wendung im Schicksal der Liliputaner. Jetzt lagen ihre Schlafzimmer nebeneinander..
Hannes hatte dieses Zimmer ausgewählt und gesagt, dass die Brüder schon längst davon geträumt hätten, näher bei Ellen zu wohnen.. Jetzt gingen ihr die Ereignisse des schwindenden Tages im Kopf herum.
Was hatte auf dem Zettel gestanden, den sie verloren hatte ? Oder hatte ihn jemand eingesteckt … Der Inhalt des Zettels konnte jemand erzürnt haben, worauf dann die Bestrafung von Amis zurückzuführen war. Welche Schlange konnte ihn gebissen haben, und wie war sie in den Raum gekommen ? Alles nur Rätsel.
Was verbarg sich hinter all dem ?
- Mein Gott, erhöre mein Gebet, schütze uns Waisen vor allem Unglück und Gefahr im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.. -
Nach diesem Gespräch mit dem himmlischen Vater beruhigte sie sich und schlief ein. Ein harter Tag war überstanden.